Wir sahen die Amerikaner noch in Erfurt, wie sie auf ihre LKWs sprangen und abfuhren. Der Sinn unserer Flucht war an der Realität zerplatzt. Weiter wollten wir nicht mehr.
In Erfurt arbeitete meine Mutter wieder als Mathe-Lehrerin. Zunächst an einer Grundschule, ein Jahr später an der Oberschule und ab 1947 als Dozentin für Mathematik an der späteren Pädagogischen Hochschule. Sie bildete nun ihrerseits Mathelehrer aus. Sie hatte die herrliche Gabe, komplizierte Dinge einfach zu erklären. Das konnte sie gut.
In einem Mantel, selbst geschneidert aus zwei Decken, aus zwei verschiedenfarbigen Decken modisch geschneidert, stand sie in schlecht geheizten Räumen vor ihren Studenten. Die hatten lange Zeit keinen Stift mehr in den Händen gehalten, nur starre, todbringende Waffen.
Ich verstand nicht, warum Erwachsene noch zur Schule gehen mussten. Verwundert schaute ich auf die vielen roten Zeichen, wenn Mutti abends ihre Arbeiten korrigierte.
Wieso machen Erwachsene noch so viele Fehler?
Ich hatte gedacht, sie wüssten immer alles, sie taten jedenfalls so.
Und wie sollte es mit mir weiter gehen?
Mutti stellte mich dem Schuldirektor vor. Freundlich unterhielt er sich mit mir über dies und das, fragte nach der Malfolge der Zwei. Das war puppenleicht. Auch einen kleinen Text las ich vor. Das „Z“ konnte ich korrekt aussprechen, ich konnte ja inzwischen auch pfeifen.
„Nun“, überlegte er, „was wollen wir da machen? Sie beherrscht ja schon den Lernstoff der ersten Klasse.“
„Ja“, erwiderte Mutti, „deswegen sind wir hier. Sie wäre wohl unterfordert in der ersten Klasse“
„Aber was ist mit dem Schreiben?“
„Das schafft sie auch, wir haben ja noch ein paar Wochen Zeit.“
Der Direktor war einverstanden und Mutti übte jeden Tag einen neuen Buchstaben mit mir. Nicht mit Griffel und Schiefertafel, wie es bei Erstklässlern üblich war, sondern gleich mit Federhalter und Tinte. Für schöne Schrift war keine Zeit. Außerdem bin ich Linkshänder. Mutti drang darauf, mich der Tradition zu fügen, die sich an Rechtshändern orientiert. Sie sorgte sich vor der Diskriminierung eines Außenseiters. So nahm ich ganz selbstverständlich meinen Federhalter in die rechte Hand und wurde beidhändig. Der Grundstock für meine Doktorschrift war gelegt.
Ende Juni konnte ich alle Buchstaben schreiben und schnupperte in die Klasse, mit der ich in das zweite Schuljahr versetzt werden sollte. Meinen ersten Schultag feierten wir nicht gerade überschwänglich. Die selbstgebastelte Schultüte war dem Jahr 1945 angemessen.
Mein Vater kehrte aus dem Krieg zurück. Körperlich unversehrt. Über seine Erlebnisse und sein Tun in dieser Zeit hat er niemals ein Wort verloren. Er war mir fremd in meinem bisherigen Leben und er blieb mir auch fremd.
Endlich bekamen wir eine Wohnung zugewiesen und konnten unsere provisorische Bleibe verlassen. Die obere Etage in einer Villa, an drei Seiten ein Balkon, direkt am Flutgraben der Gera. Die Erfurter nannten ihn liebevoll ihren Flunsch. Im Sommer ein friedlicher Graben mit viel wildem Grün, war er der ideale Spielplatz für uns Kinder. In die steile Böschung, die von der Straße nach unten führte, hatten wir Kuhlen gebuddelt. Diese Stufen schlängelten sich als schmaler Pfad durch die Wildnis, eine ideale Fluchtrute beim Versteckspielen. Gelegentlich wuchteten Nachbarn große Steine in den Graben. In dem angestauten Wasser konnten wir spielen und planschen. Das Freibad gegenüber war für die Besatzer und ihre Familien reserviert. Als es später auch für uns geöffnet wurde, überwand ich meine Furcht vor dem tiefen Wasser, schwamm dem langen Stock des Schwimmlehrers hinterher bis es auch ohne ihn ging.
Am Ufer des Baches wuchs saftiges Gras in Hülle und Fülle. Es jeden Tag zu pflücken fanden wir nicht toll, unsere Kaninchen brauchten jedoch Futter. Sie lebten auf unserem Balkon, waren keine niedlichen Spielgefährten. Sie sollten den kargen Speiseplan ergänzen. Der war recht originell. Alle Mütter dieser Zeit waren Künstler der Improvisation. Alle möglichen Ersatzstoffe, von Honig über Zucker bis Butter, landeten in unseren Bäuchen. „Schiebewurst“ wurde zum großen Hit. Manchmal gelangen uns Gelegenheitskäufe. Eines Tages hatten wir eine ordentliche Portion Haferflocken erstanden, leider ungeschält. Gerne aßen wir die süße Suppe und schluckten tapfer die Haferflocken mitsamt ihren Spelzen hinunter. Ausgepresster Mohn, geformt zu trockenen, harten Scheiben, landete ebenfalls in unserer Speisekammer. Mutti musste sie stets mit einer großen Zange bearbeiten, um ihnen etwas Substanz zu entreißen. Aber an jedem Wochenende zauberte sie einen herrlichen Kuchen auf den Tisch.
Und niemals werde ich den strengen Geschmack von Lebertran vergessen.
Im Frühjahr wird dieser harmlose Flunsch zum gurgelnden, tosenden, Angst einflößenden Ungeheuer. Eine schmutzigbraune, reißende Flut, ganze Bäume mit sich reißend, stürmt brausend Richtung Norden. Ich weiß, wie tief der Graben ist. An solchen Tagen gehe ich lieber auf der anderen Straßenseite zur Schule. Doch die liegt gegenüber. Die schmale Fußgängerbrücke, sonst sanft in der grünen Landschaft ruhend, wirkt nun zerbrechlich. Sie scheint sich selbst zu fürchten über diesem brodelnden Höllenschlund. Für einen Umweg über die große Brücke hätte ich früher aufstehen müssen. All meinen Mut nehme ich zusammen und eile mit klopfendem Herzen ans andere Ufer.
Hoffentlich hält sie stand und lässt sich nicht mitreißen. Vor allen Dingen nicht, wenn ich gerade hier bin.
Sobald der Flunsch wieder friedlicher wurde, eroberten wir ihn als Spielplatz zurück. Gemeinsam mit der Natur erwachte auch unser Tatendrang.
Wenn schließlich die Gloriosa vom Dom herüberschallte, bedeutete das Ferien, es war Ostern. Selbst wir hielten kurz ein in unserem wilden Spiel und lauschten ihrem Klang. Ein himmlischer Ton ergoss sich über die Stadt, vereint mit dem nächsten und wieder dem nächsten in stetig folgender Harmonie, verzauberte er die Stadt und ihre Menschen.
Von unseren Kinderzimmern aus, wir hatten jetzt jeder unser eigenes, konnten wir das spannende Geschehen am Flunsch beobachten. Sechs große Zimmer und nach drei Seiten ein Balkon, das war fantastisch. Allerdings fehlten zunächst jegliche Möbel. Die Besitzerin im Erdgeschoss wollte uns nicht einmal einen Tisch ausleihen.
Aber ausgleichende Gerechtigkeit, die Gasuhr war defekt. Irgendetwas klemmte in ihrem Räderwerk, sie zählte nur gelegentlich weiter. Wir mussten mit Gas nicht sparen, im Winter war es in der Küche immer kuschelig warm. Am großen Familientisch, den wir inzwischen besaßen, konnten wir essen, spielen, na ja, auch Schularbeiten erledigen. Er bildete den Mittelpunkt unseres Familienlebens.
Reichlich Respekt hatte ich vor der Therme im Bad. Man wusste nie, ob das Gas gleichmäßig strömt, plötzlich versiegt oder gar alles explodieren würde. Mutti hatte mich eindringlich ermahnt aufzupassen. In der Badewanne war ich jedoch alleine, trug die volle Verantwortung. Das andere Ende der Wanne, möglichst weit weg von der Gefahr, schien mir am sichersten. Gebannt schaute ich auf die flackernden, blaugelben Flammen, stets bereit, gleich aus der Wanne zu springen. In rekordverdächtiger Zeit absolvierte ich meine Hurtigwäsche und verließ schnell wieder das Bad in sicheres Terrain.
Spannend war auch das Ablesen der Gasuhr. Wenn wir den Termin für die Kontrolle erfahren hatten, drehten wir alle Flammen auf und Mutti bearbeitete im Keller die Gasuhr mit den Fäusten. Sie sollte sich bequemen, etwas weiter zu laufen. Mutter schaffte es immer, die Uhr in einen annehmbaren Bereich zu trommeln, die Kontrolle verlief stets unauffällig.
In einem Zimmer unserer Wohnung konnten wir frische Luft schnappen, ohne die Fenster zu öffnen. Ein Granatsplitter hatte die Ecke des Hauses getroffen, sie war nicht mehr vorhanden. Der Fußboden ragte in den Garten, von unten provisorisch gestützt durch einen Balken. Diesem Umstand verdankten wir wohl auch unser Wohnrecht, denn direkt neben uns waren alle Häuser für sowjetische Offiziere und ihre Familien beschlagnahmt worden. Wir konnten sie von unseren Fenstern aus sehen. Sie sahen wie ganz normale Menschen aus.
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