Trotz ihrer Angst musste Rena zugeben, dass die Aussicht etwas für sich hatte. Wenn man sich um die eigene Achse drehte, konnte man gleich drei Provinzen sehen: Im Nordosten blickte man ins grüne Alaak, im Westen schimmerte das Seenland verheißungsvoll zu ihr herauf, und im Südosten, auf der anderen Seite der Berge, erstreckte sich das schroffe, trockene Tassos.
Von hier oben erkannte man, dass die Menschen im Tal nicht sehr gesellig zu sein schienen – der Kern des Ortes lag neben einem See und umfasste nur zwei Dutzend zusammengewürfelt aussehende Hütten. Der Rest verteilte sich in Form von abgelegenen Höfen. Auf einem davon mussten die Drillinge des Orakels geboren sein; mitten im Ort hätte man ihre Existenz nie geheim halten können.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie ihre Eltern gestorben sein könnten, überlegte Rena. War es wirklich ein Unfall und pures Pech? Hatten sie Selbstmord begangen? Hatte irgendein Erwachsener sie umgebracht – oder waren es die Kinder selbst gewesen? Noch konnte sie keine dieser Möglichkeiten ausschließen. Nur eines war sicher, der Rat hatte sich bisher nicht um die Angelegenheit gekümmert und keine Nachforschungen angestellt. Vielleicht wollten er gar nicht so genau wissen, was damals vor ein paar Wintern passiert war, Hauptsache, er hatte sein Orakel.
Je näher Rena dem Dorf kam, desto erstaunter war sie. Einige der Hütten gehörten unverkennbar zur Luft-Gilde, waren aus Gras geflochten und hatten nur dünne Strohdächer. Aber sie sah auch Erdhäuser, Pyramiden nach Art der Feuer-Gilde und aus Stein gebaute Gebäude. Und wenn sie nicht alles täuschte, dann war auch der See bewohnt – im flachen Bereich sah sie den silbrigen Stoff von Luftkuppeln schimmern, wie sie die Menschen der Wasser-Gilde bauten. Alle vier Gilden in einem Ort! Sieht so aus, als wäre man dem Rest von Daresh hier meilenweit voraus, dachte Rena erfreut.
Neugierig ging sie zu einem der Felshäuser, das ein Dach aus glattem schwarzen Stein und sorgsam zugemauerte Fenster hatte, und stieß den traditionellen Begrüßungsruf aus. Drinnen hörte sie ein Rumoren, dann wurde die Tür aufgerissen und aus dem Halbdunkel im Inneren spähte ein spitzes, misstrauisches Gesicht mit den großen Augen der Erd-Gilde. Rena begann freundlich: „Friede den Gilden, tani, ich ...“
„Was wollt Ihr?“
„Nur ein paar Fragen stellen ... ich interessiere mich für ...“
„Scher dich weg!“
Verblüfft machte Rena einen Schritt zurück. „Ich wollte doch nur ...“
Die Tür knallte zu.
„Wurzelfäule und Blattfraß“, sagte Rena. Warum hatte sich die Frau bloß so angestellt? Hasste man Fremde hier oder hatte sie etwas zu verbergen? Auf diesen Schreck setzte sie sich lieber erst mal ans Ufer des Sees und kühlte ihre Füße im Wasser. Mit rauschenden Schwingen setzte Ruki neben ihr auf und grub die Zehen in den Ufersand. „Beim Nordwind, iiich habe Hunger. Gibt´s hier was zu Essen?“
„Du hast dich überhaupt nicht verändert“, seufzte Rena und lächelte.
Es dauerte einen halben Tag, bis sie herausgefunden hatten, welches Haus einmal den Eltern des Orakels gehört hatte. Ruki flog voraus und meldete ihr, wie weit es entfernt war und dass es leerstand. Rena wanderte los und gegen Nachmittag war sie da. Mitten auf einer bunten Sommerwiese kauerte ein flaches Steingebäude mit grasbewachsenem Dach, aus dem ein Schornstein hervorlugte. Hinter dem Haus strömte ein zwei Menschenlängen breiter Fluss entlang. Das Haus begann schon zu zerfallen; auf dem Dach erhoben sich stolz wie Eroberer ein halbes Dutzend junge Bäume.
Rena stapfte durch das hohe Gras der Wiese, umrundete das Haus und versuchte ins Innere zu spähen. Doch die Fenster waren zugenagelt, sie konnte nichts erkennen. Rena überlegte, ob sie einbrechen sollte, entschied sich aber dagegen. Unwahrscheinlich, dass da drinnen des Rätsels Lösung zu finden war.
Enttäuscht kehrten sie ins Dorf zurück. „Wir müssen noch einmal versuchen mit einem der Dorfbewohner zu reden“, meinte Rena. „Wie wär´s, wenn du mitkommst? Wir probieren´s mal bei der Luft-Gilde.“
Zu ihrer Überraschung wurde sie in der Grashütte sofort eingelassen. Das war allerdings nicht Renas Verdienst, sondern Rukis. Kaum hatte sich die Tür einen Spalt vor ihnen geöffnet, begann er schon die Bündnisformel zu schmettern. Obwohl die eigentlich dazu da war, dass Menschen die mit ihrer Gilde verbündeten Halbmenschen um Hilfe bitten konnten. „ Windschwester, Wolkenbruder, Nestgefährte ...“
„Halt den Schnabel, beim Nordwind, weißt du denn nicht, dass das geheim ist?“, zischte es erschrocken hinter der Tür hervor. „Los, kommt rein!“
„ ... im Namen des Nordwinds, hilf“, beendete Ruki seinen Spruch, tauschte einen triumphierenden Blick mit Rena und stelzte ihr voran in die Hütte.
Mit misstrauischen Blicken musterte sie der alte Mann, der ihnen geöffnet hatte. Er hatte lange, lockige silbergraue Haare und trug ein abgewetztes Gewand, das selbst genäht aussah. Ein großer Schrank aus dunklem Holz mit vielen Fächern bedeckte eine Wand, ansonsten war der Raum schlicht, fast kahl eingerichtet. Sein einziger Schmuck waren die verblassten Muster in den geflochtenen Wänden.
Ruki beäugte die Keksdose, die auf der Anrichte stand, mit gierigen Blick. Wahrscheinlich hoffte er, dass der Alte ihnen etwas daraus anbieten würde. Aber der machte keine Anstalten dazu.
„Es kommen selten Fremde in die Stadt“, bemerkte der Mann. Rena sah, dass seine Hände knotig und schwer beweglich waren, und beobachtete verlegen, wie er sich mühte ihnen einen Cayoral zu brühen. Wortlos half sie ihm, so gut sie konnte. Er dankte ihr mit einem Nicken.
„Wir sind auf der Suche nach Wissen“, sagte sie. „Es heißt, dass die Anderskinder, die jetzt das Mond-Orakel bilden, von hier stammen.“
Der Alte verzog den Mund, öffnete eine Schublade seines Schranks und reichte Ruki ein kleines Fläschchen mit der Aufschrift Nuss-Öl . „Da, Wolkenbruder. Könnte noch regnen heute.“
Rena wusste, dass viele Storchenmenschen dieses Öl benutzten, um ihre Flügel gegen Feuchtigkeit abzuschirmen. Ruki schien etwas enttäuscht, dass er nichts Essbares bekommen hatte und die Keksdose verschlossen geblieben war. Aber er griff trotzdem nach dem Fläschchen und machte sich an die Gefiederpflege. Damit war er, wie Rena wusste, erst einmal gut beschäftigt.
„Es ist besser, dass das mit den Kindern kaum jemand weiß“, sagte der Alte zu Rena gewandt. „Sonst wäre es aus mit unserer Ruhe.“
„Kanntet Ihr die Familie?“
„Ja, natürlich, ich habe mein ganzes Leben in diesem Tal verbracht“, sagte der Alte. „Nichts gegen sie zu sagen. Nein, nichts.“
Doch seine Stimme war zurückhaltend, und das machte Rena misstrauisch. „Zu welcher Gilde gehörten sie?“
„Hier ist das nicht so wichtig, Meisterin. Hier, am Schnittpunkt der Provinzen.“ Schwerfällig schlurfte er zum Tisch und goss ihnen den Cayoral ein.
Rena ließ nicht locker. „Hat es die Leute nicht misstrauisch gemacht, als die Eltern sich so plötzlich zurückgezogen haben, nachdem die Kinder geboren waren?“
„Wir mischen uns nicht in anderer Leute Angelegenheiten.“ Der Alte nippte an seinem Becher und blickte auf die geflochtene Wand. „Der Südwind weht mal wieder. Könnte regnen heute. Oder vielleicht morgen. Besser, Ihr reist weiter, bevor es Euch erwischt. Meine Kräfte reichen nicht mehr, um Regen aufzuhalten oder Wolken zu verscheuchen.“
Er will das Thema wechseln, dachte Rena. Gut, das kann er haben. „Wie sind die Eltern gestorben? Wisst Ihr, wer sie entdeckt hat?“
Schweigend blickte der Alte sie an. Er sah aus, als bedaure er, sie hereingelassen zu haben – und als würde er sie am liebsten wieder vor die Tür setzen, Regen hin oder her. „Wer ist es, der das wissen will?“, fragte er schließlich. „Wer seid Ihr? Kommt Ihr vom Rat?“
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