Sie besah sich den Mann genauer. Er war groß und blond wie viele Menschen der Luft-Gilde. Sein Gesicht mit dem breiten Mund war lebhaft in Bewegung, während er erzählte, und seine strahlendblauen Augen leuchteten – er genoss es offensichtlich, im Mittelpunkt zu stehen. Auf seiner Schulter saß ein kleiner dunkelbrauner Pfadfinder, der seine Jugend schon hinter sich zu haben schien. Gerade war er friedlich auf der Schulter des Erzählers eingenickt. Doch das Ungewöhnlichste an dem Fremden war sein langer Kapuzenumhang, den er über den Stuhl gehängt hatte. Er war aus Hunderten von verschiedenen bunten Stofffetzen genäht.
Nun war der Erzähler fast am Ende seiner Geschichte angelangt. „... und schließlich schafften die Iltismenschen es, Alix mit ihren eigenartigen Tänzen und Beschwörungen zu heilen, sodass sie und Rena ihre Reise wieder aufnehmen und ins Grasmeer weiterziehen konnten.“
Mit einer kleinen Verbeugung schloss der Geschichtenerzähler seinen Vortrag ab und sammelte die Münzen ein, die ihm seine Zuhörer hinschoben. Sein alter Pfadfinder schrak auf und blinzelte mit den Knopfaugen. Höflich beteiligte sich Alena an dem Applaus, obwohl der letzte Teil der Geschichte ziemlicher Blödsinn gewesen war. Iltismenschen tanzten und beschworen nicht. Rena selbst hatte ihr erzählt, dass die Halbmenschen Alix mit einem Pflanzenbrei geheilt hatten, und Alena neigte dazu, dieser Version zu glauben. Schließlich war Rena dabeigewesen.
Vielleicht sollte sie dem Luft-Gilden-Kerl berichten, wie es sich wirklich zugetragen hatte? Sie hätte auch gerne gewusst, welche Geschichten über ihre Mutter der Erzähler noch kannte. Alena zögerte. Doch dann steckte Cchraskar den Kopf durch die Tür und maunzte: „Wann kommt endlich das Essen, wann?“
Alena rief zurück: „Klingenbruch, du bist vielleicht verfressen!“ und ging nun doch zum Wirt hinüber.
Als sie – ausgerüstet mit einer Wildpastete, mehreren gerösteten Broten, einem Dutzend Pfeilwurzeln und einem Trinkbeutel mit frisch gebrauten Cayoral – zur Tür ging, merkte sie, dass der Geschichtenerzähler sie aus den Augenwinkeln beobachtete. Plötzlich war es Alena zu peinlich, ihn anzusprechen, und verlegen ging sie an ihm vorbei nach draußen.
„Wo warst du so lange, wollte der Wirt nichts rausrücken?“, fragte Jorak missmutig.
Schon wieder Vorwürfe. Alenas Freude sickerte weg und sie küsste ihn nicht, wie sie es vorgehabt hatte. „Es war ein Geschichtenerzähler da, ich hatte Lust, einen Moment zuzuhören.“
„Meinssst du den da?“, erkundigte sich Cchraskar.
Alena blickte überrascht auf, als ein bunt gekleideter Mann aus der Schänke gestürzt kam. Der Geschichtenerzähler! Wild blickte er sich um, dann rannte er direkt auf sie zu.
„Schnell! Versteckt mich!“, flüsterte er und kauerte sich hinter sie und Cchraskar.
Verdutzt blickte Alena ihn an, aber Jorak reagierte instinktiv und warf seinen dunklen Umhang über den jungen Mann. Schnell setzten sie sich so, dass sie ihn verdeckten, und aßen weiter, um einen friedlichen und unschuldigen Eindruck zu machen. Vielleicht hat der Gute die falsche Geschichte erzählt, überlegte Alena neugierig. Oder einen Witz zum Besten gegeben, der nicht so gut angekommen ist ...
Ein paar Atemzüge nach dem Erzähler stürmte auch der Wirt nach draußen und blickte sich wutentbrannt um. Doch er sah nichts Verdächtiges und zog sich schließlich grollend wieder in sein Erdhaus zurück. Kaum war er verschwunden, warf der blonde Erzähler seine Abdeckung von sich und streckte seinen langen Körper.
„He, danke, Leute“, meinte er fröhlich. „Muss los!“
Innerhalb von ein paar Atemzügen hatte er den Waldrand gegenüber des Glaswalds erreicht und war zwischen den Stämmen verschwunden.
„Was war das denn?“, fragte Alena kopfschüttelnd.
Interessiert blickte Jorak dem Blonden hinterher. „Lustiger Vogel. Vielleicht hat er die Zeche geprellt.“
„Oh. Dann hat er uns ja zu Komplizen gemacht!“
Jorak zuckte die Schultern. „Und wenn schon. Ich helfe lieber jemandem, der verfolgt wird, als dem Verfolger.“
Alena nickte – es ging ihr genauso. Sie ärgerte sich nur darüber, dass sie den Geschichtenerzähler vorhin in der Schänke nicht einfach angesprochen hatte. Damit hatte sie sich eine wertvolle Chance entgehen lassen, mehr über Alix zu erfahren!
Doch die Gelegenheit, das nachzuholen, sollte schneller kommen, als ihr lieb war.
***
Von allen Farbwäldern, die es in Daresh gab, fand Jorak den Blauen Wald am eindrucksvollsten. Hier glänzten die Blätter in allen Schattierungen von Hellblau bis zum tiefen Indigo. Doch durch diesen Wald zu reisen war nicht sehr angenehm: Die Baumart, die hier wuchs, hatte kurze, massige Stämme und dichte Kronen. Es drang kaum Licht hindurch zum Boden, man brauchte selbst dann eine Lampe oder Fackel, wenn die Sonne am höchsten stand und den Wald in ein traumhaft blaues Licht tauchte.
„Niccht meine Lieblingsfarrbe“, teilte Cchraskar ihnen mit.
Alena blickte interessiert auf. „Hast du denn eine? Das wusste ich gar nicht.“
„Manchmal blaugrau. So wie das Fell von Nachtwisslern. Manchmal rot. Hübsch, das. Manchmal auch Gelb. Wie die Sonne. Wärmt so schön, wärmt.“
Jorak musste lächeln. „Wenn du ein Mensch wärst, würdest du dir wahrscheinlich auch so einen scheußlich-bunten Mantel zulegen wie dieser Geschichtenerzähler.“
Wie durch einen glücklichen Zufall stießen sie gegen Abend auf eine Schänke – es war das erste Haus, das sie seit ihrem Abschied aus dem Dorf sahen. Dem gedrungenen Gebäude der Erd-Gilde dienten vier lebende Bäume als senkrechte Eckbalken. Man konnte leicht sehen, dass das Haus schon sehr alt war. Dadurch, dass die Bäume wuchsen, hatten die Bewohner oben schon ein paar Stockwerke anbauen können.
„Ich glaube, heute können wir uns mal ein richtiges Bett leisten“, stöhnte Alena.
Jorak nickte grimmig. „Falls sie einen wie mich reinlassen. Einen Versuch ist es wert.“ Wie so oft schlug er den Kragen seines Umhangs hoch, damit er nicht so leicht als Gildenloser zu erkennen war. Er wollte auf keinen Fall, dass sich die Blamage von gestern wiederholte. Es war ihm furchtbar peinlich, dass Alena nun praktisch für ihn sorgen musste, weil niemand ihm etwas verkaufen würde. Natürlich hätte er problemlos etwas zu Essen besorgen können, er war gewohnt, sich zu beschaffen, was er brauchte. Aber nachdem Alena über die mögliche Zechprellerei dieses Erzählers so entsetzt gewesen war, hatte er seine Zweifel, ob eine zusammengestohlene Mahlzeit ihr schmecken würde – und das wäre dann noch viel, viel peinlicher!
Mit den Fackeln, die vor den Türen leuchteten, und dem traditionellen Gasthaus-Schild, das zwei ineinander verschränkte Hände zeigte, wirkte das Gebäude sehr einladend. Der Wirt, der ihnen entgegentrat, war ein dunkelhaariger, muskulöser Mann mit dichtem Bart – sein Amulett wies ihn als einen der friedlichen Erdleute aus. „Friede den Gilden!“, sagte er mit einer tiefen, heiseren Stimme. „Kommt doch rein.“
Jorak war froh, dass er es so problemlos geschafft hatte, ins Gasthaus zu gelangen. Aber nur, bis das Essen kam. Eine mürrische Frau brachte ihnen ein Mahl aus angebrannten Frühlingsmehl-Pfannkuchen und völlig zerkochten Kurg-Sprossen. „Entweder hat der Koch zu viel Beljas gekaut oder er ist einfach schlecht“, murmelte Alena und verzog das Gesicht.
Außer ihnen waren nur zwei andere Gästepaare da, die nach dem exotischen Schnitt ihrer Kleidung von weither zu kommen schienen – Jorak tippte auf Vanamee und den Süden von Nerada. Sie hatten schon ein paar Polliak intus, waren aber trotzdem noch klar genug im Kopf, um sich über das schlechte Essen zu beklagen.
„Komisch“, sagte Cchraskar und hob das Gesicht in die Luft, um zu schnuppern. „Der Witterung nach müssten eigentlich viel mehr Leute da sein, viel mehr.“
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