«Jemand hat ihn in zwei Hälften zersägt», meinte der Rechtsmediziner. «Bei lebendigem Leib. Als wären wir im Mittelalter! Eine verdammt große Schweinerei. Wer sind Sie überhaupt? Sie waren gestern schon hier ...oder?»
Philipp antwortete rasch in Daniels Namen. «Er ist ein Kollege von Europol.»
Der Rechtsmediziner runzelte die Stirn. «Okay. Wie auch immer. Ich kann mir kaum einen schlimmeren Tod vorstellen. Bei lebendigem Leib einfach geteilt. Seinen Hodensack hat es als erstes zerfetzt und dann ...»
«Okay. Ich möchte es mir gar nicht vorstellen», meinte Daniel rasch.
Die Tür ging auf und ein Mann kam herein. Etwa Mitte Fünfzig. Graues Haar und einen grauen Vollbart. Daniel erkannte ihn. Es war der Kollege gewesen, der am Tag zuvor die Witwe hergebracht hatte. Er nickte Philipp zu, blickte dann auf die Leiche. «Wir haben die Bestätigung. Dieser Mann war der Besitzer der Metzgerei.»
«Okay, Bernd», Philipp seufzte, «und keine Verbindung zum ersten Opfer?»
«Noch keine erkennbare Verbindung zumindest», sagte Philipps Kollege namens Bernd. Er musterte Daniel genau. So richtig konnte er ihn nicht zuordnen.
«Gut. Ich habe noch was zu erledigen», meinte Philipp zu seinem Kollegen, «wir sehen uns später.»
Der grauhaarige Beamte nickte. «In Ordnung. Treffen wir uns im Büro?»
Philipp schüttelte den Kopf: «Mach jetzt mal Wochenende. Wir sitzen seit zwei Tagen an diesem Fall und benötigen nun mal Ruhe.»
Bernd schaute ihn an. Dann auf seine Uhr: «Stimmt. Wir haben Samstag. Herrje, das ist aber auch ein Fall ...» Dann ging er als Erster hinaus.
Daniel folgte Philipp schließlich ebenfalls nach draußen. Bernd war nicht mehr zu sehen. «Was erzählst du deinem Kollegen, wer ich bin? Ebenfalls, dass ich von Interpol bin?»
«Europol hatte ich gesagt. Und nein, das erzähle ich dem natürlich nicht. Das würde Fragen aufwerfen.»
«Das tut es ohnehin schon. Hast du gesehen, wie er mich angeblickt hat?»
«Bernd ist in Ordnung. Er ist ein wenig altmodisch, aber er ist ein guter Polizist.»
«Das ist überhaupt nicht der Punkt», sagte Daniel. «Ich werde dich auf jeden Fall nicht mehr in die Pathologie begleiten.»
«Vorab. Das war die Rechtsmedizin, nicht die Pathologie. Aber erst müssen wir die Frage klären, ob du den Mann kennst?»
«Den Metzger? Woher sollte ich?»
«Was weiß ich. Das ist ja der Punkt. Ich suche eine Verbindung. Zwischen der Leiche, dem Barettabzeichen und vor allem auch deinem Namensschild.»
«Ich weiß es nicht, Herrgott, ich weiß es nicht.»
«Aber du kannst dir doch vorstellen, dass ich irritiert bin? Das ich solche Fragen stellen muss?»
«Sicher», seufzte Daniel, «was auch immer da gespielt wird. Es wirft Fragen auf. Und ich gebe zu, irgendwie möchte mich da jemand mit reinziehen.»
«Jemand, der weiß, dass du noch lebst.»
«Ist davon auszugehen!», murmelte Daniel und schaute einer jungen Dame hinterher, die im weißen Anzug lächelnd an ihm vorbeiging.
«Wer weiß alles, dass du lebst?»
«Du und mein Arbeitgeber», sagte Daniel.
«Herr Saibling? Dieser ...Politiker?»
«Genau!», Daniel nickte. «Und dessen Familie. Wobei die nicht wissen, dass ich tot bin.»
«Wenn also jemand die zwölfjährige Tochter von Herrn Saibling fragt, ob ein gewisser Daniel Adler bei ihnen ein und ausgeht, dann wird sie das nicht verneinen?»
«Meinen Nachnamen kennt sie nicht.»
«Herrgott, ja. Okay. Aber mal angenommen jemand zeigt ihr ein Bild und fragt: lebt dieser Kerl noch.»
«Dann wird sie das bestätigen.»
«Du spielst ein riskantes Spiel, das ist dir bewusst?»
«Seit sieben Jahren arbeite ich für diese Familie. Die Kleine war damals fünf. Für sie bin ich im Endeffekt schon immer da. Riskanter finde ich, dass du mich hier in die Pathologie schleppst.»
«Ich habe dir schon mal gesagt, das ist die rechtsmedizinische Abteilung, nicht die Pathologie. Ich brauche dich jetzt nicht mehr», sagte Philipp, «aber ... bleib in der Nähe.»
«Wie bitte?», Daniel schaute verwirrt drein.
«Ich würde es gut finden, wenn du in München bleibst!»
«Arschloch. Das klingt, als würdest du mich tatsächlich verdächtigen.»
Philipp seufzte. «Nein. Aber du hast damit etwas zu tun. Wenn auch vielleicht indirekt. Ich fahre dich nach Hause.»
«Ich verzichte», meinte Daniel, «und ich finde selbst hinaus.»
Die Zelle von Maja war sauber, keine Frage. Es hätte durchaus auch ein Krankenzimmer in einem Hospital sein können. Eigentlich stellte sie sich bei einer Entführung das Gefängnis als schäbiges Zimmer vor. Eines, indem Ratten ihr nachts über die Beine huschten. Oder Spinnen sich von der Decke abseilten. Das war nicht der Fall. Und diese Gedanken waren auch reichlich dämlich, wie sie sich selbst eingestand. Sie schob Paranoia, hatte die verrücktesten Fantasien.
Warum war sie mitgegangen? Diese Frage stellte sie sich immer und immer wieder. Es war der Moment gewesen. Der Anruf ihrer Mutter war ein Grund. Aber nicht nur. Auch so wäre sie niemals mit diesem Mann mitgegangen. Nicht wenn diese Tamara nicht dabei gewesen wäre. Das war überhaupt das Verrückte an der Sache. Sie hatte ihr vertraut, weil sie eine Frau war. Und das war idiotisch. In Majas Welt waren die Bösen eigentlich immer Männer gewesen. Natürlich nicht alle. Aber wenn einer Böse war, dann doch eher ein Mann. Zumindest war das ihr Weltbild.
Die Ungewissheit war grausam. «Er nennt es spielen», hatte diese Tamara gesagt. Maja war sich nicht so sicher, was das bedeutete. Oder doch? Entweder leugnete sie die Wahrheit oder aber sie konnte es sich einfach nicht vorstellen.
Maja legte sich auf das Bett und schloss die Augen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Tina. Die sie ermahnt hatte. Und sie hatte Recht gehabt. Aber das änderte nichts an ihrer jetzigen Situation. Nur an der Tatsache, dass Maja sich dafür umso mehr selbst kritisierte.
Sie überlegte, was für ein Tag war. Es war Freitagabend gewesen, als sie entführt worden war. Wahrscheinlich war gut ein Tag vergangen. Ihr kam es wie eine Ewigkeit vor, aber Sonntag war sicherlich noch nicht. Also Samstag. Aber wie viel Uhr? Würde man sie vermissen? Natürlich. Ihre Mutter hatte am Freitagabend mit ihr gerechnet und würde sich Sorgen machen. Und am heutigen Samstag war ihr Martial Arts Training. Auch da würde es auffallen, wenn sie nicht kam. Sie hatte Einzelstunden. Bei einem richtig guten Trainer. Und die Stunden waren teuer. Rund 90 Euro zahlte sie für eine Trainingseinheit. Das waren 360 Euro im Monat. Ohne Ausrüstung.
Kampftraining. Eigentlich war es lächerlich, dass war ihr klar. Sie war eine so verdammt gute Kämpferin, das sagte jeder. Vor allem ihr Trainer. Er war mehrfacher deutscher Meister. Und der erkannte Potential. Aber hier hatte sie nicht einmal annähernd die Möglichkeit irgendetwas anzuwenden. Das Ganze war eine Farce. Selbstverteidigung? Nicht einmal ansatzweise hatte sie dafür die Gelegenheit bekommen.
«Was bin ich doch für ein kleines Mädchen», dachte sie sich. Bald wurde sie volljährig. Im letzten halben Jahr hatte sie sich reichlich erwachsen gefühlt. Jetzt hatte sie das Gefühl, als wäre sie wieder das schutzlose Mädchen von einst. Das sich nach ihrer Mutter sehnte. Nach Geborgenheit und Liebe.
Sie fing wieder an zu weinen. Alleine der Gedanke an ihre Mutter trieb ihr die Tränen in die Augen. Verzweiflung, Angst und Scham waren im Moment die größten ihrer Gefühle.
Sie dachte auch an Christoph. Ihren Stiefvater. Auch er würde sich Sorgen machen, zweifelsohne. Er war nicht ihr richtiger Vater, aber er war im Endeffekt schon immer dagewesen. Angeblich hatte er ihre Mutter bereits vor ihrer Geburt kennengelernt. Und er hatte sich immer wie ein Vater um sie gekümmert. Eine Woche vor ihrer Geburt hatten sie geheiratet. Ihre Mutter hatte den Namen Sauter angenommen und Maja damit ebenfalls. Neun oder zehn Jahre war sie gewesen, als ihre Mutter und ihr Stiefvater ihr erzählten, dass sie eigentlich einen anderen leiblichen Vater hatte. Ihr hatte das nichts ausgemacht. Sie hatte Christoph damals umarmt und damit war die Sache erst einmal erledigt gewesen. Nicht ganz. Als pubertierende 13jährige hatte sie ihn mal angeschrien. Dass er nicht ihr Vater sei und deshalb ihr nichts zu sagen habe. Er war damals so geschockt gewesen, dass es lange gebraucht hatte, bis wieder alles gut war. Und ihr hatte es leidgetan. Eigentlich schon gleich danach. Aber sie war zu stolz gewesen es zuzugeben.
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