Verdammt, wo bin ich nur? Diese Frage stellte er sich immer wieder. Und wo ist mein Gepäck ?
Er versuchte mit den beiden Mädchen zu sprechen, doch die Worte verließen nur in Bruchstücken seinen Mund. Die beiden Indianermädchen lächelten zurückhaltend und nickten mit ihren Köpfen. Dann kam die ältere wieder mit dem seltsamen Trinkgefäß auf ihn zu …
Die frühen Morgenstunden waren ein sehr wichtiger Moment für Claudio. Gerade dann vermochte er am besten nachzudenken und Gedanken zu ordnen, die ihm noch im Schlaf gekommen waren.
Den Abend vorher hatte er mit seinem Freund Luis und einem befreundeten Mitarbeiter des Nationalen Instituts für Kulturangelegenheiten, kurz INC, verbracht.
Sein Verstand jedoch war an diesem Morgen irgendwie durcheinander. Er versuchte sich zu entspannen, spürte jedoch eine aufkommende Verkrampfung seiner Muskeln in Beinen und Rücken. Seine Faust ballte sich vor überschüssiger Energie, er brummte vor sich hin und rollte missmutig aus seinem Bett. Freude und Anspannung über ein neues Abenteuer begannen zunehmend zu verblassen. Es kostete ihn merkliche Mühe, in ein normales Leben zurückzukehren. Er fühlte eine innere Leere, die ihn einfach nicht mehr verlassen wollte. Er klammerte sich an den Glauben, dass seine Unzufriedenheit nicht von jenen Ereignissen abhing, auch wenn es noch so schwer war, sich selbst davon zu überzeugen.
Er wohnte in einer Seitenstraße unweit der Plaza Grau im historischen Stadtkern der peruanischen Hauptstadt Lima. Neben alteingesessenen Bars, Restaurants und Kaffeehäusern reihten sich hier im Stadtteil Barranco unzählige historische Bauwerke aneinander, die noch aus der Kolonialzeit der Spanier stammten. Für ihn war es nah genug bis zum eigentlichen Stadtzentrum von Lima aber auch wiederum weit genug davon entfernt, um nicht von der Hektik der brodelnden Metropole belästigt zu werden.
Rasch zog er sich an und kletterte nach unten um die Morgenzeitung von der Türstufe aufzuheben. Im zweiten Stockwerk befanden sich neben Roger Peters Schlafzimmer noch ein Gästezimmer, ein Bad und eine liebevoll von ihm zusammengestellte kleine Bibliothek. Den ersten Stock teilten sich die Küche und das geräumige Wohnzimmer mit einer schweren Couchgarnitur aus Leder, einem wuchtigen Esstisch mit acht passenden Stühlen, antiken Holzregalen und Schränken, einem Sekretär sowie einer auffälligen Standuhr.
Eine feine Auswahl präkolumbischer Keramiken aus allen nur denkbaren Gegenden Südamerikas bereicherten seine Vitrinen und Regale.
Während der etwas ungemütlicheren Wintermonate Juli bis September versprach ein gusseiserner Kaminofen eine angenehme Wärme. Für eine gemütliche Beleuchtung sorgten antike Lampen aus buntem Tiffanyglas mit Bleieinfassung.
Claudio vermied es zunehmend, mit dem PKW in das Stadtzentrum von Lima zu fahren. Für kleinere Einkäufe oder Ausfahrten in die nähere Umgebung vertraute er auf sein klassisches MG-B Cabrio aus den 60-er Jahren, dessen Motor nach wie vor, wie eine alte Singer Nähmaschine treu seinen Dienst leistete.
Der zusammengefaltete Klumpen auf dem Ledersofa war sein Kumpel Luis. Die automatische Kaffeemaschine auf der Rückseite seiner Küchenbar hatte bereits ein einigermaßen trinkbares Gebräu fertiggestellt, als sich Claudio an den Küchentisch setzte, um einen Blick in die Tageszeitung zu werfen.
Luis Schnarchen drang von dem Sofa aus dem Wohnzimmer zu ihm herüber. Sein tiefgezogener, rasselnder Atem hörte sich an wie das Grunzen eines größeren Tieres. Es folgte ein abruptes Stottern und dann war er wach, gähnte und streckte sich ausgiebig.Claudio grinste vor sich hin.
„Guten Morgen! Wie geht es dir am ersten Tag deines restlichen Lebens?“
„Meine Güte“, räusperte sich Luis. „Wie spät ist es denn?“
Claudio schaute auf seine Armbanduhr.
„Gleich halb acht.“
„Ach, noch so früh?
Claudio versuchte zu lächeln. Luis erhob sich von dem Sofa und trottete in Richtung Gästebadezimmer mit der kleinen Dusche in den hinteren Räumen des Erdgeschosses, während Claudio eine neue Tasse Kaffee aufsetzte, läutete das Telefon.
„Senor Guerrero?“, fragte eine unbekannte weibliche Stimme.
„Si, si! Hier ist Claudio Guerrero. Womit kann ich dienen?“
„Bitte warten Sie einen Moment. Direktor Gilberto Leon möchte Sie sprechen.“
Eine Musik ertönte. Die Dame hatte ihn in eine Warteschleife gesetzt, noch ehe er sie fragen konnte, ob er richtig gehörte hatte. Jedoch keine Minute später war Leon bereits in der Leitung.
„Hallo Ihr beiden, ich hoffe ich störe nicht.“
„N…nein, ganz und gar nicht“, antwortete Claudio verdutzt. Er hielt noch den Kaffeelöffel in der linken Hand.
Auch wenn er Senor Gilberto Leon nicht persönlich kannte, so war er doch sehr vertraut mit dem Abteilungsleiter für Öffentlichkeitsarbeit beim INC, Reynaldo Garcia. Insgeheim verbannt sie eine gemeinsame Leidenschaft: ANTIQUE KULTUREN. Bereits öfters hatten sie zusammengehockt und Erfahrungen sowie Gedanken über prä-kolumbische Kulturen ausgetauscht. Und genau so ein Treffen hatte gestern Abend stattgefunden.
„Was kann ich für Sie tun, Senor Leon?“
„Immer direkt zum Geschäft kommend, das gefällt mir“, entgegnete Leon, als ob es Claudio gewesen wäre, der den Anruf getätigt hatte.
„Also gut, kommen wir gleich zur Sache. Ich hab da vielleicht eine Aufgabe für Sie. Etwas, das genau in Ihrem Interesse liegen dürfte. Mir ist da gerade ein großer Umschlag auf den Schreibtisch geflattert. Allerdings kann ich diese Angelegenheit unmöglich am Telefon besprechen.“
„Dann lassen Sie doch wenigstens raus, um was es geht!“ Claudio wollte es jetzt genauer wissen.
„Das geht leider nicht. Sagen wir, Sie kommen um drei Uhr in mein Büro, einverstanden?“
„Ich würde eher sagen, nein!“
Er war im Prinzip an einem Treffen mit Leon interessiert, wollte sich aber nicht gleich von Anfang an dessen Willen beugen.
„Gegenvorschlag. Was halten Sie von achtzehn Uhr in der Posada del Angel, bei Elias? Dann dürfen Sie mich gerne zu einem Glas Wein einladen, während wir uns unterhalten.“ Leon zögerte einen Moment, Luis zog eine Grimasse.
„Sehr gut, Senor“, sagte Leon ohne lange zu überlegen. „Sie scheinen ja zu wissen, was Sie wollen. Sagen wir also um sechs in der Posada del Angel. Claudio stimmte zu und legte den Hörer auf. Ratlos schaute er auf seinen Freund.
„Kannst Du dir einen Reim darauf machen Luis? Ich möchte wirklich wissen, was das nun zu bedeuten hat? Der große Direktor Leon bittet mich um eine Audienz.“
Luis hockte über seinem Kaffeebecher und dachte nach. Auch wenn es noch verdammt früh dafür schien.
„Mir scheint der gute Reynaldo hat da ein wenig aus dem Nähkästchen geplaudert“, sagte er schließlich.
„Du meinst das Gespräch von gestern Abend?“
Noch während er seine eigene Tasse leerte, bemerkte Claudio, dass die inneren Anspannungen aus den frühen Morgenstunden auf einmal verschwunden waren.
Das urgemütliche Lokal Posada del Angel existiert schon seit vielen Generationen und ist seit seiner Entstehung durch unzählige Umbau- und Restaurationsarbeiten stetig verändert worden. Sein aktueller Besitzer ist ein argentinischer Kunstsammler namens Elias. In der heutigen Gegenwart erinnern die Räumlichkeiten stark an eine Galerie, deren Wände mit antiken Ölgemälden, Masken und Fotografien geschmückt sind. Überall stehen antike Möbelstücke und Sitzgelegenheiten aus den unterschiedlichsten stilistischen Epochen herum.
Claudio setzte sich auf einen der Luis XIV Stühle an dem kleinen, runden Ecktisch mit den aufwendigen Einlegearbeiten und bestellte einen chilenischen Rotwein. Elias stand hinter der geräumigen Holzbar und winkte ihm zu. Dabei deutete er auf die Einganstür. Pünktlich wie die Maurer sah Claudio einen vornehm gekleideten Mann eintreten. Gilberto Leon.
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