Welchen Nachteil überhaupt solche unvorsichtige
Bewahrung fremder und eigener Geheimnisse gewährt,
das bedarf wohl keiner weitläufigen Auseinandersetzung.
Es gibt aber eine Menge andrer Dinge, die zwar nicht
eigentlich Geheimnisse sind, wovon uns aber die
Vernunft lehrt, daß es besser sei, sie zu verschweigen,
und andre Dinge, deren Ausbreitung wenigstens für
niemand lehrreich und unterhaltend sein kann, und
wovon es doch möglich wäre, daß ihre Verplauderung
irgend jemand nachteilig sein möchte. – Ich empfehle
also eine kluge Verschwiegenheit, die jedoch nicht in
lächerliche Mysteriösität ausarten muß, als eine sehr
wichtige Tugend im Umgange. Übrigens wird man die
Bemerkung wahr finden, daß in despotischen Staaten die
Menschen im ganzen genommen verschwiegener sind, als
wo mehr Freiheit herrscht. Dort machen Furcht und
Mißtraun verschlossen und zurückhaltend, hier folgt
jeder dem Triebe seines Herzens, sich freimütig
mitzuteilen.
Wenn man auch mehreren Leuten zugleich sein
Geheimnis anvertrauen muß, so lege man doch jedem
unbedingte Verschwiegenheit auf, damit jeder von ihnen
glaube, er wisse es allein, müsse allein für die Bewahrung
haften.
42.
Gewissen Leuten ist eine Leichtigkeit im Umgange und
die Gabe, geschwind Bekanntschaften zu machen und
Zuneigung zu gewinnen, wie angeboren; andern hingegen
hängt von Jugend auf eine gewisse Blödigkeit und
Schüchternheit an, die sie nicht ab zulegen vermögen,
wenngleich sie täglich fremde Leute allerorten um sich
sehen. Diese Blödigkeit nun ist freilich sehr oft die Folge
einer fehlerhaften Erziehung, sowie auch zuweilen die
Wirkung einer heimlichen Eitelkeit, die in Verlegenheit
gerät, aus Furcht, nicht zu glänzen. Manchen Menschen
aber scheint diese Schüchternheit gegen ganz fremde
Leute wirklich von Natur eigen zu sein, und alle Mühe,
welche sie sich dagegen geben, ist verloren. Ein
regierender Fürst, einer der edelsten und verständigsten
Männer, die ich kenne, und der auch wahrlich seines
Äußern wegen sich nicht zu schämen, noch zu fürchten
braucht, nachteilige Eindrücke zu machen, hat mir
versichert, daß, obgleich ihn sein Stand von Kindheit an
in die Lage gesetzt habe, täglich große Zirkel und viel
fremde Gesichter zu sehn, er dennoch an keinem Tage in
sein Vorzimmer trete, wo der versammelte Hof seiner
wartete, ohne vor Verlegenheit auf einen Augenblick
ganz blind zu werden. Übrigens fällt bei diesem
liebenswürdigen Herrn, sobald er sich ein wenig erholt
hat, diese Schüchternheit weg, und dann redet er
freundlich und offen mit jedermann und sagt bessere
Dinge, als gewöhnlich Fürsten bei solchen Gelegenheiten
über Wetter, böse Wege, Pferde und Hunde zu sagen
wissen.
Eine gewisse Leichtigkeit im Umgange also, die Gabe,
sich gleich bei der ersten Bekanntschaft vorteilhaft
darzustellen, mit Menschen aller Art zwanglos sich in
Gespräche einzulassen und bald zu merken, wen man vor
sich hat und was man mit jedem reden könne und müsse,
das sind Eigenschaften, die man zu erwerben und
auszubauen trachten soll. Doch wünsche ich, daß dies nie
in jene den Aventuriers so eigene Unverschämtheit und
Zudringlichkeit ausarte, die oft in weniger als einer
Stunde Frist einer ganzen, fremden Tischgesellschaft im
Wirtshause ihre Lebensläufe abgefragt und dagegen den
ihrigen erzählt, Dienste und Freundschaft angeboten und
Dienste, Verwendung und Hilfe für sich erbeten haben.
43.
Ein großes Talent, und das durch Studium und
Achtsamkeit er langt werden kann, ist die Kunst, sich
bestimmt, fein, richtig, kernig, nicht weitschweifig
auszudrücken, lebhaft im Vortrage zu sein, sich dabei
nach den Fähigkeiten der Menschen zu richten, mit
denen man redet, sie nicht zu ermüden, gut und launig zu
er zählen, nicht über seine eigenen Einfälle zu lachen,
nach den Um ständen trocken oder lustig, ernsthaft oder
komisch seinen Gegenstand darzustellen und mit
natürlichen Farben zu malen. Da bei soll man sein
Äußeres studieren, sein Gesicht in seiner Gewalt haben,
nicht grimassieren, und wenn wir wissen, daß gewisse
Mienen, zum Beispiel beim Lachen, unsrer Bildung ein
widerwärtiges Ansehn geben, diese zu vermeiden suchen.
Der Anstand und die Gebärdensprache sollen edel sein;
man soll nicht bei unbedeutenden, affektlosen
Unterredungen wie Personen aus der niedrigsten
Volksklasse mit Kopf, Armen und andern Gliedern
herumfahren und um sich schlagen; man soll den Leuten
grade, aber bescheiden und sanft ins Gesicht sehn, sie
nicht bei Ärmeln, Knöpfen und dergleichen zupfen oder
immer etwas zu spielen zwischen den Fingern haben.
Kurz, alles was eine feine Erziehung, was
Aufmerksamkeit auf sich selbst und auf andre verrät, das
gehört notwendig dazu, den Umgang angenehm zu
machen, und es ist wichtig, sich in solchen Dingen nichts
nachzusehn, sondern jede kleine Regel des Anstandes,
selbst in dem Zirkel seiner Familie, zu beobachten, um
sich das zur andern Natur zu machen, wogegen wir so oft
fehlen, und was uns Zwang scheint, wenn wir uns
Nachlässigkeiten in der Art zu verzeihn gewöhnt sind.
Hierüber in diesen Blättern viel mehr zu sagen, zu lehren:
warum man den Leuten nicht in die Rede fallen dürfe;
daß wir einen Teller, oder was uns dargereicht wird, auch
dann abnehmen müssen, wenn wir nichts davon behalten
wollen, damit der andre nicht die Mühe habe, es
unsertwegen in der Hand zu tragen; daß man so wenig als
möglich in einer Gesellschaft den Leuten den Rücken
zukehren, in Titeln und Namen nicht irre werden solle;
daß man bei Personen, die das genau nehmen, den
Vornehmern immer auf der rechten Seite, oder, wenn
drei beisammen sind, in der Mitte gehn lasse; daß man,
wenn jemand, dem wir Achtung schuldig sind, vor
unserm Hause vorübergeht, wo wir am Fenster stehn und
er uns grüßt, man das Fenster auf einen Augenblick
öffnen oder wenigstens tun müsse, als wolle man es
öffnen; daß eben dies in der Kutsche, beim
Vorüberfahren zu beobachten sei; daß man dem, mit
welchem man spricht, frei und offen, doch nicht starr
und frech in das Gesicht schauen, seine Stimme in seiner
Gewalt haben, nicht schreien und doch verständlich
reden, in seinem Gange Anstand beobachten, nicht
allerorten das große Wort haben solle; daß man, wenn
man ein Frauenzimmer führt, um sie nicht zu stoßen, mit
ihr gleichen Schritt halten und mit demselben Fuße wie
sie antreten, ihr auch zuweilen seine linke Hand reichen
müsse, wenn sie an der rechten Seite nicht so bequem
gehn würde; daß man auf steilen Treppen im
Hinuntersteigen die Frauenzimmer vorausgehn, im
Hinaufsteigen aber sie folgen lassen müsse; daß, wenn
man uns nicht versteht und man voraussieht, daß eine
genauere Erklärung nichts helfen würde oder der
Gegenstand von so geringer Wichtigkeit ist, daß er keinen
großen Aufwand von Worten verdient, man dann die
ganze Sache fallenlassen müsse; daß vornehme Leute,
wenn sie nicht über Vorurteile hinaus sind, es
übelnehmen, wenn ein Geringerer von sich und ihnen in
Gemeinschaft spricht (z.B. »Als wir gestern zusammen
spazierengingen.« »Wir haben gewonnen im gestrigen
Spiele und unsre Gegner verloren«), sondern, daß sie
verlangen, man solle tun, als seien sie allein in der Welt
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