in der Welt, die nicht zwei Seiten haben. Vorurteile
verdunkeln oft die Augen selbst des klügern Mannes, und
es ist sehr schwer, sich gänzlich an eines andern Stelle zu
denken. Urteile besonders nicht so leicht über kluger
Leute Handlungen, oder Deine Bescheidenheit müßte
Dir sagen, daß Du noch weiser wie sie seist! und da ist es
denn eine mißliche Sache um diese Überzeugung.
Ein kluger Mann ist mehrenteils lebhafter als ein
andrer, hat heftigere Leidenschaften zu bekämpfen,
bekümmert sich weniger um das Urteil des großen
Haufens, hält es weniger der Mühe wert, sein gutes
Gewissen durch große Apologien zu rechtfertigen.
Übrigens soll man nur fragen: »Was tut der Mann
Nützliches für andre?« und wenn er dergleichen tut, über
dies Gute die kleinen leidenschaftlichen Fehler, die nur
ihm selber schaden oder höchstens unwichtigen,
vorübergehenden Nachteil wirken, vergessen.
Vor allen Dingen maße Dir nicht an, die Bewegungsgründe zu
jeder guten Handlung abwägen zu wollen! Bei einer solchen
Rechnung würden vielleicht manche Deiner eigenen
großen Taten verzweifelt klein erscheinen. Jedes Gute
muß nach seiner Wirkung für die Welt beurteilt werden.
21.
Habe acht auf Dich, daß Du in Deinen Unterredungen,
durch einen wäßrigen, weitschweifigen Vortrag nicht
ermüdest! Ein gewisser Lakonismus – insofern er nicht in
den Ton, nur in Sentenzen und Aphorismen zu sprechen
oder jedes Wort abzuwägen, ausartet – ein gewisser
Lakonismus, sage ich, das heißt: die Gabe, mit wenig
kernigen Worten viel zu sagen, durch Weglassung kleiner
unwichtiger Details die Aufmerksamkeit wach zu
erhalten, und dann wieder, zu einer andern Zeit, die
Geschicklichkeit, einen nichtsbedeutenden Umstand
durch die Lebhaftigkeit der Darstellung interessant zu
machen – das ist die wahre Kunst der gesellschaftlichen
Beredsamkeit. Ich werde davon unten noch mehr sagen;
überhaupt aber rede nicht zu viel! Sei haushälterisch mit
Spendung von Worten und Kenntnissen, damit es Dir
nicht früh an Stoffe fehle, damit Du nicht redest, was Du
verschweigen sollst, verschweigen willst, und damit man
Deiner nicht satt werde! Laß auch andre zu Worte
kommen, ihr Teil mit hergeben zur allgemeinen
Unterhaltung! Es gibt Leute, die, ohne es selbst zu
merken, allerorten die Sprachführer sind; und wären sie
in einem Zirkel von fünfzig Personen, so würden sie sich
dennoch bald zum Meister von der ganzen Konversation
machen.
So unangenehm dies für die Gesellschaft ist, ebenso
widrige, Freude störende Eindrücke macht die Weise
mancher Leute, die stumm und gespannt horchen und
lauern, und die man leicht für gefährliche Beobachter
halten kann, denen es nur darum zu tun scheint, jedes
unvorsichtige, nicht gehörig gewählte Wort, das man in
sorgloser Redseligkeit fallen läßt, zu irgendeinem
hämischen Zwecke aufzusammeln.
22.
Es gibt Menschen, die (so wie manche sich fruges
consumere natos glauben) auch im geselligen Leben
immer nur empfangen, nie geben wollen, die vom
übrigen Teile des Publikums amüsiert, unterrichtet,
bedient, gelobt, bezahlt, gefüttert zu werden verlangen,
ohne etwas dafür zu leisten; die über Langeweile klagen,
ohne zu fragen, ob die andern weniger Langeweile
gemacht haben; die behaglich dasitzen, sich's wohl sein,
sich erzählen lassen, aber nicht daran denken, auch für
das Vergnügen der übrigen zu sorgen. – Das ist aber so
ungerecht als lästig.
Noch andre findet man, die immer nur ihre eigene
Person, ihre häuslichen Umstände, ihre Verhältnisse, ihre
Taten und ihre Berufsgeschäfte zum Gegenstande ihrer
Unterredung machen und alles dahin zu drehn wissen,
jedes Gleichnis, jedes Bild von daher nehmen. So wenig
als möglich übertrage in gemischte Gesellschaften den
Schnitt, den Ton, den Dir Deine spezielle Erziehung,
Dein Handwerk, Deine besondre Lebensart geben. Rede
nicht von Dingen, die außer Dir schwerlich jemand
interessieren können. Spiele nicht auf Anekdoten an, die
Deinem Nachbar unbekannt sind, auf Stellen aus
Büchern, die er wahrscheinlich nicht gelesen hat! Rede
nicht in einer fremden Sprache, wenn es glaublich ist, daß
nicht jeder, der und Dich ist, dieselbe versteht. Lerne den
Ton der Gesellschaft annehmen, in welcher Du Dich
befindest. Nichts kann abgeschmackter sein, als wenn der
Arzt einige junge Damen mit Beschreibung seiner
Sammlung anatomischer Präparate, der Rechtsgelehrte
einen Hofmann über die unwirksame
Possessions-Ergreifung und das edictum Divi Martii, der
alte gebrechliche Gelehrte eine junge Kokette von seinem
offnen Beinschaden unterhält.
Oft aber tritt der Fall ein, daß man in Gesellschaften
gerät, wo es schwer ist, etwas vorzubringen, das Interesse
erweckte. Wenn ein verständiger Mann von leeren,
elenden Menschen umgeben ist, die für gar nichts von
beßrer Art Sinn haben, ei nun! so ist es seine Schuld
nicht, wenn er nicht verstanden wird. Er tröste sich also
damit, daß er von Dingen geredet hat, die billig
interessieren müßten .
23.
Rede also nicht zu viel von Dir selber, außer in dem
Zirkel Deiner vertrautesten Freunde, von welchen Du
weißt, daß die Sache des einen unter ihnen eine
Angelegenheit für alle ist; und auch da bewache Dich,
daß Du nicht Egoismus zeigest. Vermeide, selbst dann zu
viel von Dir zu reden, wenn gute Freunde, wie es
vielfältig geschieht, das Gespräch aus Höflichkeit auf
Deine Person, auf Deine Schriften und dergleichen leiten!
Bescheidenheit ist eine der liebenswürdigsten
Eigenschaften und macht um so vorteilhaftere
Eindrücke, je seltener diese Tugend in unsern Tagen
wird. Sei also auch nicht so bereit, jedermann Deine
Schriften unberufen vorzulesen, Deine Anlagen zu zeigen
und Deine rühmlichen Handlungen zu erzählen, noch auf
feine Art Gelegenheit zu geben, daß man Dich darum
bitten müsse. Auch drücke niemand durch Deinen
Umgang, das heißt, zeige in keiner Gesellschaft ein
solches Übergewicht, daß andre verstummen, sich in
schlechtem Lichte zeigen müssen!
24.
Widersprich Dir nicht selbst im Reden, so daß Du einen
Satz behauptest, dessen Gegenteil Du ein andermal
verteidigt hast. Man kann seine Meinung von Dingen
ändern, allein man tut doch wohl, in Gesellschaft nicht
eher, wenigstens nicht entscheidend zu urteilen, als bis
man alle Gründe vor und gegen dieselben gehörig
abgewogen hat.
25.
Hüte Dich, in den Fehler derjenigen zu verfallen, die aus
Mangel an Gedächtnis oder an Aufmerksamkeit auf sich,
oder weil sie so verliebt in ihre eigenen Einfälle sind,
dieselben Histörchen, Anekdoten, Späße, Wortspiele,
witzigen Vergleichungen und so ferner bei jeder
Gelegenheit wiederholen.
26.
Würze nicht Deine Unterhaltung mit Zweideutigkeiten,
mit Anspielungen auf Dinge, die entweder Ekel erwecken
oder keusche Wangen erröten machen. Zeige auch
keinen Beifall, wenn andre dergleichen vorbringen. Ein
verständiger Mann kann an solchen Gesprächen keine
Lust haben. Auch in bloß männlichen Gesellschaften
verleugne nicht die Schamhaftigkeit, Sittsamkeit und
Dein Mißfallen an Zoten.
27.
Flicke keine platten Gemeinsprüche in Deine Reden ein.
Zum Beispiel: daß Gesundheit ein schätzbares Gut; daß
das Schlittenfahren ein kaltes Vergnügen; daß jeder sich
Читать дальше