selbst der Nächste sei; daß, was lange dauert, gut werde,
wovon ich das Gegenteil zu beweisen übernehme; daß
man durch Schaden klug werde, welches leider selten
eintrifft; oder daß die Zeit schnell hingehe welches, im
Vorbeigehn zu sagen, gar nicht wahr ist; denn da die Zeit
nach einem bestimmten Maßstabe berechnet wird, so
geht sie nicht schneller vorbei, als sie gerade muß, und
der, welchem ein Jahr kürzer vorkommt, als es ist, der
muß in demselben über Gebühr geschlafen haben oder
sonst seiner Sinne nicht mächtig gewesen sein. Solche
Sprichwörter sind sehr langweilig und nicht selten sinnlos
und unwahr.
28.
Belästige nicht die Leute, mit welchen Du umgehst, mit
unnützen Fragen. Es gibt Menschen, die, nicht eben aus
Vorwitz und Neugier, sondern weil sie nun einmal
gewöhnt sind, ihre Gespräche in Katechisationsform zu
verfassen, uns durch Fragen so beschwerlich werden, daß
es gar nicht möglich ist, auf unsre Weise mit ihnen in
Unterhaltung zu kommen.
29.
Lerne Widerspruch ertragen. Sei nicht kindisch
eingenommen von Deinen Meinungen. Werde nicht
hitzig noch grob im Zanke. Auch dann nicht, wenn man
Deinen ernsthaften Gründen Spott und Persiflage
entgegensetzt. Du hast, bei der besten Sache, schon halb
verloren, wenn Du nicht kaltblütig bleibst und wirst
wenigstens auf diese Art nie überzeugen.
30.
An Orten, wo man sich zur Freude versammelt, beim
Tanze, in Schauspielen und dergleichen, rede mit
niemand von häuslichen Geschäften, noch viel weniger
von verdrießlichen Dingen. Man geht dahin, um sich zu
erholen, um auszuruhn, um kleine und große Sorgen
abzuschütteln, und es ist also unbescheiden, jemand mit
Gewalt wieder mitten in sein tägliches Joch
hineinschieben zu wollen.
31.
Daß ein redlicher und verständiger Mann über
wesentliche Religionslehren, auch dann, wenn er das
Unglück haben sollte, an der Wahrheit derselben zu
zweifeln, sich dennoch keinen Spott erlauben wird, ich
meine, das versteht sich von selber; aber auch über
kirchliche Verfassungen, über die Menschensatzungen,
welche in einigen Sekten für Glaubenslehren gehalten
werden, über Zeremonien, die manche für wesentlich
halten, und dergleichen, soll man nie in Gesellschaften
spotten. Man respektiere das, was andern ehrwürdig ist.
Man lasse jedem die Freiheit in Meinungen, die wir selbst
verlangen. Man vergesse nicht, daß das, was wir
Aufklärung nennen, andern vielleicht Verfinsterung
scheint. Man schone die Vorurteile, die andern Ruhe
gewähren.
Man beraube niemand, ohne ihm etwas Besseres an
die Stelle dessen zu geben, was man ihm nimmt. Man
vergesse nicht, daß Spott nicht bessert; daß unsre hier auf
Erden noch nicht entwickelte Vernunft über so wichtige
Gegenstände leicht irren kann; daß ein mangelhaftes
System, auf welchem aber der Grund einer guten Moral
liegt, nicht so leicht umzureißen ist, ohne zugleich das
Gebäude selbst über den Haufen zu werfen, und endlich,
daß solche Gegenstände überhaupt gar nicht von der Art
sind, daß man sie in Gesellschaften abhandeln könne.
Doch dünkt mich, man vermeidet heutzutage oft zu
vorsätzlich alle Gelegenheiten, über Religion zu reden.
Einige Leute schämen sich, Wärme für Gottesverehrung
zu zeigen, aus Furcht, für nicht aufgeklärt genug gehalten
zu werden, und andre affektieren religiöse
Empfindungen, scheuen sich, auch nur im mindesten
gegen Schwärmerei zu reden, um sich bei den
Andächtlern in Gunst zu setzen. Ersteres ist
Menschenfurcht und letzteres Heuchelei, beides aber
eines redlichen Mannes gleich unwert.
32.
Wenn Du von körperlichen, geistigen, moralischen oder
andern Gebrechen redest oder Anekdoten erzählst, die
gewisse Grundsätze oder Vorurteile lächerlich machen
oder gewisse Stände in ein nachteiliges Licht setzen
sollen, so siehe Dich vorher wohl um, ob niemand
gegenwärtig sei, der das übel aufnehmen, diesen Tadel
oder Spott auf sich oder seine Verwandten ziehn könnte.
Halte Dich über niemandes Gestalt, Wuchs und Bildung auf!
Es steht in keines Menschen Gewalt, diese zu ändern. Nichts ist
kränkender, niederschlagender und empörender für den
Mann, der unglücklicherweise eine etwas auffallende
Gesichtsbildung oder Figur hat, als wenn er bemerkt, daß
diese der Gegenstand der Verspottung oder Befremdung
wird. Leuten, die ein wenig mit der großen Welt bekannt
sind und unter Menschen von allerlei Formen und
Ansehn gelebt haben, sollte man darüber billig gar nichts
mehr erinnern dürfen; aber leider trifft man hie und da,
selbst unter fürstlichen Personen, besonders unter
Damen, solche an, die so wenig Gewalt über sich oder so
wenig Begriffe von Wohlanständigkeit und Billigkeit
haben, daß sie die Eindrücke, welche ein ungewöhnlicher
Anblick von der Art auf sie macht, nicht verbergen
können. – Das ist schwach, und wenn man noch dabei
überlegt, wie relativ und dem verschiedenen Geschmacke
unterworfen die Begriffe von Schönheit und Häßlichkeit
sind, wie so wenig auf sichre Grundsätze beruhend unsre
physiognomische Wissenschaft ist und wie oft unter einer
anscheinend häßlichen Larve ein schönes, edles, warmes,
großes Herz mit einem feinen, tiefdenkenden Kopf
steckt, so sieht man leicht, daß man sehr selten Recht, auf
das äußere Ansehn eines Menschen nachteilige
Folgerungen zu bauen, und nie Befugnis haben kann, die
Eindrücke, welche ein solcher Anblick etwa auf uns
macht, zu jemandes Kränkung durch Lachen oder auf
andre Art kundwerden zu lassen.
Außer einer sonderbaren Figur können uns aber noch
andre Dinge an einem Menschen auffallend sein zum
Beispiel: lächerliche, phantastische, abgeschmackte
Gebärden, Manieren, Verzerrungen des Körpers,
Unbekanntschaft mit gewissen Sitten, Unvorsichtigkeiten
im Betragen, ungewöhnlicher, altmodischer Anzug, u.
dgl. Es gehört nicht weniger zu einer guten Lebensart,
hierüber nicht durch Lachen oder durch Zeichen, die
man einem der Anwesenden gibt, sein Befremden zu
erkennen zu geben und dadurch den armen Mann, der
sich dergleichen zuschulden kommen läßt, noch mehr in
Verlegenheit zu setzen.
33.
Briefwechsel ist schriftlicher Umgang; fast alles, was ich
vom persönlichen Umgange mit Menschen sage, leidet
Anwendung auf den Briefwechsel. Dehne also Deinen
Briefwechsel, so wie Deinen Umgang, nicht über Gebühr
aus. Das hat keinen Zweck, kostet Geld und ist
Zeitverderb. Sei ebenso vorsichtig in der Wahl derer, mit
denen Du einen vertrauten Briefwechsel anfängst, als in
der Wahl Deines täglichen Umgangs und Deiner Lektüre.
Nimm Dir auch vor, nie irgendeinen ganz leeren Brief zu
schreiben, in welchem nicht wenigstens etwas stünde, das
dem, an welchen er gerichtet ist, Nutzen oder reine
Freude gewähren könnte. Vorsichtigkeit ist im Schreiben
noch weit dringender als im Reden zu empfehlen, und
ebenso wichtig ist es, mit den Briefen, welche man erhält,
behutsam umzugehn. Man sollte es kaum glauben, was
für Verdruß, Zwist und Mißverständnis durch
Versäumung dieser Klugheitsregel entstehn können. Ein
einziges hingeschriebenes unauslöschliches Wort, ein
einziges aus Unachtsamkeit liegengebliebenes Papier hat
manches Menschen Ruhe und oft auf immer den Frieden
einer Familie zerstört.
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