Doch plötzlich kommt mir ein Gedanke. Er mag eigentlich bescheuert sein, aber er spendet unglaublich viel Trost. Trost, den ich brauche, denn sonst übernimmt die Traurigkeit mein komplettes Ich. Trost, den die neue immer frischer werdende Luft nicht ausreichend spenden kann. Wenn etwas Neues und Schönes lebendig wird, dann muss etwas Altes geopfert werden. Dies muss eine Art Naturgesetz sein, welches man ohne Wehmut hinnehmen muss, weil es nun mal so ist und nicht verändert werden kann. Dinge ändern wollen, die man per Naturgesetz nicht ändern kann, macht unglücklich; deshalb sollte man es lassen. Diese merkwürdige Erkenntnis bewirkt eine völlige Katharsis meiner Gedanken:
Erstens: Hündchen musste sterben. Es war notwendig.
Zweitens: Guck dir an, was Hündchen und zwar Hündchen allein für eine Welt erschaffen hat. Wenn Hündchen die Raupe war, ist diese Welt jetzt Hündchen als Schmetterling.
Drittens: Ich kann lieben, konnte lieben, nur leider ist ein gebrochenes Herz viel schlimmer als Herzlosigkeit.
Und viertens: Zweitens ist falsch, denn ich habe und nicht Hündchen hat diese Welt erschaffen. Hündchen war streng genommen nur mein Werkzeug.
Ich habe die Raupe genommen, sie in einen Kokon gesponnen und sie dadurch gezwungen zum Schmetterling zu werden.
»Wollen Sie rausgucken? Es sind keine Menschen in Sichtweite.«
»A.S.T., bitte duze mich.«
»Willst du rausgucken? Es sind...«
»Schon klar, nein. Zeige mir endlose leere Wüste.«
Keine Ahnung, ob A.S.T. diese Funktion hat, aber tatsächlich wird eine endlose Wüste an den Innenwänden gezeigt. Genau so fühle ich mich im Inneren: leer und leblos. Die Technik ist erstaunlich. Man kann nicht reingucken und das Rausgucken ist optional. Stattdessen kann man sich menschenleere Umgebungen zeigen lassen. Der eingebaute Computer versteht mich so gut, dass er quasi keine Fehler macht. Wieso war so etwas nicht schon in der soziomanen Welt möglich?
Auch wenn die Wüstenlandschaft entspannend ist, schießt mir wieder dieser eine Gedanke durch den Kopf. Ich habe Hündchen getötet. Ach nein, ich habe es verwandelt, stelle ich für mich erneut klar. Die leere Wüste ist jetzt deine Welt. Alle anderen bedeuten dir nichts! Egal, ob normal oder sozioman! Diese Welt bedeutet dir nichts! Ich versuche mich abzulenken und betrachte den Navigationsbildschirm vor mir. Ich sehe, dass ich bald zu Hause bin. Bald gehe ich wandern. Könnte ich aus Hündchens Fell nicht einen schönen Rucksack dafür machen? Wieso falle ich wieder in die alten Gedankenmuster zurück? Damit ich mich nicht irgendwann wieder in einen Menschen verliebe? Wollte ich nicht ursprünglich lustige und fröhliche Bücher schreiben und wieso gehe ich alleine wandern? Weil es mich an den Urlaub mit Hündchen erinnert? Hündchen hatte kein Fell aus dem ich einen Rucksack machen könnte.
Und die Menschen verbessern sich doch: Ich wandere gedankenverloren durch einen örtlichen Wald, erfreue mich an den sanften Klängen der Natur. Neben mir das Wässerchen eines Baches, über mir ein Konzert verschiedener Vögel. Ich wäre gerne ein Ornithologe, dann könnte ich die Vögel benennen und ihre Stimmen mit malerischen Vokabeln umschreiben. Nun kann ich nur sagen, dass es in diesem Moment einfach schön ist. Das muss euch genügen. Der warme Wind ist angenehm wie ein sanfter Fön. Er lässt die Blätter rauschend in das Naturkonzert einstimmen. Nicht zuletzt fügt sich in das biodiverse Geräuschpotpourri des Waldes wortgewaltig eine laut dröhnende Motorsäge ein. Herrlich!
Plötzlich ertönt eine Stimme: »Hey Arschloch! Hast du keine App?«
Ich blicke um mich herum und da sehe ich sie direkt vor mir. Es ist eine andere Person, sie trägt eine Outdoorjacke, eine Outdoorhose, Wanderschuhe und eine Sonnenbrille, die sie gerade abnimmt, um mich wütend anzustarren.
Nach dem sie sich meiner Aufmerksamkeit vergewissert hat, spricht sie weiter: »Ich habe extra diesen lonely Spot zum Wandern gebucht und nun muss ich deine Hackfresse sehen.«
Sie hat recht. Ich dürfte gar nicht hier sein. Wie konnte ich nur so gedankenverloren handeln? Wer wandern will, muss sich anmelden. Eigentlich ist das schon eine ganze Weile so, aber benebelt von Gefühlen aus der Vergangenheit, handle ich, als lebte ich noch in dieser unrühmlichen alten Zeit, in der sich die Menschen rücksichtslos anderen Menschen aufdrängten. Rücksicht ist Pflicht. Das ist doch selbstverständlich. Ich gehe weiter auf den Wanderer zu. Ich hebe meine Arme. Dabei bilden sich Tränen in meinen glasigen Augen. Perplex lässt der Wanderer die Handlung über sich ergehen. Wie ein abgestorbener halbabgebrochener Baum steht er da.
Ich nehme ihn in den Arm, drücke ihn fest an mich. Ich flüstere ihm fast schon erotisch ins Ohr. »Danke! Einfach nur danke, dass du mich angeschnauzt hast. Noch nie hat mich ein Mensch so gerechtfertigt angeschnauzt wie du. Bis heute war es jedes mal bescheuert und krank und du bist der erste Mensch, der Anschnauzen vernünftig an mir angewendet hat. Ich danke dir. Du hast mir die Augen geöffnet. Es gibt so viele von uns.« Ich schluchze, drücke ihn fester an mich »...nun endlich so viele von uns.«
Keine Reaktion meines Gegenübers.
»Beschimpfe mich weiter, bitte...« Als der Wanderer unerwartet die Umarmung doch noch erwidert, blicke ich ihm tränenverschmiert ins Gesicht, welches noch immer verblüfft, aber nun zusätzlich freundlich wirkt. Wir lassen uns los und ich gehe weiter, so als wäre nichts passiert, bin aber nun deutlich besser gelaunt.
Zu Hause angekommen, logge ich mich in die A.I.D. ein und unterbreite einen Verbesserungsvorschlag für lonely Spot: Die A.I.D. möge beschließen, dass lonely Spot den Benutzer deutlich warnt, wenn er einen Bereich betritt, für den er sich nicht angemeldet hat, sollte der Bereich bereits durch eine Buchung vergeben worden sein.
Auf dem Weg in meine Lieblingsbar komme ich an ein paar seltsamen Graffiti vorbei: An mindestens drei Laternenpfählen und einem Brückenpfeiler habe ich die Umrisse eines Wolfskopfes gesehen. Während ich noch darüber nachdenke, bin ich mir nicht sicher, ob mir mein Unterbewusstsein vielleicht einen Streich spielt, indem es meine Albträume in die Realität projiziert. Vielleicht bin ich wegen der Gedanken an Hündchen einfach zu stark gestresst. In der Bar angekommen, versuche ich die Sorgen zu ertränken.
»Ich bin traurig. Geben Sie mir bitte das Härteste, was Sie haben.« Wahnsinn. Ich bin so verstört, dass ich alleine und ohne irgendwelche Hilfsmittel wie Notizzettel eine Bestellung aufgeben kann. Ich habe den Barkeeper sogar dabei angesehen, also nicht wirklich, denn eigentlich habe ich nur seine Umrisse angesehen. Das liegt an der Burka, die er gerade trägt. Es fällt vieles leichter, seit die Burka in Mode gekommen ist. Da bleibt euch wohl die Spucke im Hals stecken. Der Typ trägt eine Burka? Ist das passiert, wovor viele Spinner immer Angst hatten? Hat der fundamentalistische Islam tatsächlich die Welt erobert? Nein, natürlich nicht! Aber die Kultur, die dieses Kleidungsstück hervorgebracht hat, ist stolz und dankbar für seine Verbreitung, genauso wie jeder vernünftige Mensch dankbar ist, dass eine Kultur so ein wunderbares Outfit erfunden hat. Der ursprünglich assoziierte Zweck ist mit der neuerlichen Nutzung als Werkzeug zur Selbstbestimmung quasi ad absurdum geführt. Dieses Kleidungsstück ist wirklich toll und das völlig unabhängig vom Geschlecht der Person, die es trägt. Die ursprüngliche Burka war etwas unvorteilhaft, aber begabte Modedesigner haben ein praktisches Kleidungsstück für Sozionormale daraus gemacht. Die Burka hat einige Vorteile: Jeder kann draußen anonym bleiben und ist vor der zerstörerischen Wirkung der Sonne geschützt. Der Funktionsstoff bewahrt vor Kälte und vor Hitze. Durch geschickt verteilte Polster, weite oder enge Schnitte kann man nach außen eher eine schlanke oder eine rundliche Gestalt darstellen, ganz nach Belieben. Klar, dass es Burkas in allen Farben und Mustern gibt. Der Fantasie bei der Gestaltung sind keine Grenzen gesetzt. Die Größe des Sichtfensters lässt sich dank mehrerer Reißverschlüsse verändern, je nachdem wie viel man vom Gesicht preisgeben will. Woher weiß ich dann eigentlich, dass der Barkeeper ein Typ ist? Ich rate nur, denn ich habe die Stimme gehört. Natürlich könnten es auch eine Sie, ein Genderfluid oder drei übereinander stehende Kleinkinder sein, die einen Stimmenmodulator benutzen. Es ist ja auch egal, ob der Barkeeper biologisch auch ein Mann ist oder nicht. Durch das Auftreten scheint er sehr wahrscheinlich einen Mann darstellen zu wollen. Das akzeptiere ich, und bezeichne ihn für mich als Typ. Dieser Typ ist wahrscheinlich auch sozionormal, denn seine Reaktionen und seine Optik wirkten auf mich merkwürdig oder besser gesagt den Umständen entsprechend völlig normal, nur für soziomane Menschen wären sie natürlich ungewohnt. Da ich dieses Buch an Soziomane richte, bin ich nun einmal gezwungen wiederholt überholte und absurde Denkmuster zu verwenden. Wäre sonst recht schwierig für euch zu verstehen, was ich meine.
Читать дальше