1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Wie auf Knopfdruck verstummte das Gewieher des Hauptkommissars. Sprachlos und mit ausgestreckten Armen näherte er sich dem Fenster mit den blinden Scheiben. In seinen Augen standen Bestürzung und Trauer geschrieben. Wer wollte es ihm verübeln, wo doch kein einziges Blättchen der seit Jahren liebevoll gepflegten Begrünung mehr vorhanden war.
Als Studz die wässrigen Augen seines Chefs gewahrte, biss er, ob aus Scham oder Reue, so fest in seine Faust, dass die obere Zahnreihe einen millimetertiefen Abdruck in den Handrücken hineinstanzte.
Doch Beckergsell, der die Lust auf Vergeltung schon seit seiner Jugendzeit als ein Überbleibsel primitivster menschlicher Urinstinkte geißelte, hatte seinen Kummer schnell vergessen. »Gut gemacht!«, sagte er. »Ich konnte dieses blöde Gestrüpp sowieso nicht mehr sehen.«
Evi nickte zufrieden und gab Reinhold ein Zeichen: »Jetzt kommt das Beste.«
Oberkommissar Hannes Schlupp stellte auf einmal sein Glas beiseite. Wer den 30-jährigen Perlstettener im blau-weißen Ringelpulli und beiger Cordjeans sah, konnte glauben, dass er ein wenig zu viel getrunken hatte, doch sein fröhliches Kopfwackeln hatte noch einen anderen Grund.
Er stellte sich an Beckergsells Schreibtisch und griff nach dem Telefonhörer. Als Nächstes wählte er eine Nummer, die er von einem kleinen Zettel ablas, der mit einem Klebestreifen am Telefon befestigt war.
Er legte einen Finger auf seine Lippen und bedeutete seinem Publikum, still zu sein.
Inzwischen musste sich am anderen Ende ein Teilnehmer gemeldet haben, denn Schlupp holte tief Luft, und als er sie wieder abließ, wurden alle Anwesenden Zeugen dessen, was der junge Oberkommissar laut und deutlich in den Hörer sprach: »Herr Staatsanwalt, Sie sind der größte Depp auf Gottes Erden!«
Kaum dass er den Hörer aufgelegt hatte, brachen alle in tosendes Gelächter aus. Er selbst lachte am lautesten, wobei er die Schulterklopfer und Püffe der Kollegen gnädig über sich ergehen ließ.
Doch plötzlich läutete das Telefon, und jäh war der Spaß vorbei.
In Beckergsells Augen stand die nackte Angst geschrieben, weil er blitzschnell begriffen haben musste, zu welcher Torheit sich der junge Kollege hatte hinreißen lassen.
Aus dessen Mund erscholl mit einem Mal ein derart jämmerliches Wehklagen, dass Reinhold besorgt ins Ohr der Schneiderin raunte: »Er wird sich doch nichts antun?«
Schlupp rang seine Hände und flehte Beckergsell an, ihn nicht zu verraten. Der Hauptkommissar hüstelte in seine hohle Hand und sagte nach einigem Zögern: »Ich übernehme die volle Verantwortung!«
Entschlossen griff er nach dem Hörer und meldete sich mit seinem Namen. Während Schlupp mit eingezogenem Kopf und gefalteten Händen dastand und das Vater unser herunterleierte, waren die Gesichter seiner betrunkenen Kollegen von Schadenfreude überzogen.
Beckergsell hielt den Hörer zu und fauchte: »Seien Sie doch still, Schlupp! Man versteht ja sein eigenes Wort nicht.«
Doch dann hellte sich seine Miene auf, und Schlupp hörte auf zu beten. »Was ist denn?«, winselte er hoffnungsfroh.
Als Beckergsell nicht antwortete, kam er dicht heran und reckte seinen Hals bis zum Hörer. Doch der Hauptkommissar stieß ihn zur Seite und knallte den Hörer auf.
»Die Party ist beendet!«, donnerte er. »Wir haben eine Leiche!«
*
22.15 Uhr, Tatort Pelikanstraße
Der Mord war acht Fahrminuten vom Präsidium entfernt in der Pelikanstraße geschehen. Es war eine schmale Einbahnstraße im Stadtteil Adlerhorst. Zur Entstehung dessen Namens gab es eine uralte Geschichte, die bis in die Gegenwart den Einwohnern von Perlstetten so geläufig war wie das Kleine Einmaleins einem jeden Erstklässler.
Der Überlieferung nach hatten sich hier im 14. Jahrhundert ein Adler und eine Taube niedergelassen. Kaum angekommen, begann der Adler einen Horst zu bauen, der über ein ganzes Hausdach hinweg gereicht haben soll. Nach einer Weile legte die Taube ein Ei in das Nest. Tag und Nacht hockte sie auf dem Ei, aber auch nach Wochen war kein Küken geschlüpft. Vom langen Brüten geschwächt, verlor sie die Besinnung und fiel vom Dach direkt vors Maul eines chronisch hungrigen Tanzbären.
Evi fand die Geschichte lehrreich, machte sie doch eines deutlich: Allein das Streben nach Mutterschaft konnte tödlich sein.
Der Club war Beckergsell und seinen Gehilfen nach draußen gefolgt. Vor dem Gebäude torkelten sie ihrem Chef bis zum Dienstwagen nach. Beckergsell, der schon am Steuer saß, schrie Beeilung! Die Türen schlugen zu, und schon brausten sie davon. Evi hatte bereits ein Taxi angehalten.
»Folgen Sie diesem Wagen!«, befahl sie, »aber mit Tempo, wenn ich bitten darf!«
»Mit Tempo«, wiederholte der Fahrer. »Wird gemacht, Muttchen.«
Doris auf dem Beifahrersitz war zusammengezuckt und blickte nach hinten, wo sie trotz der schummrigen Beleuchtung im Fond Evis geweitete Augen erkannte. Sie schaute wieder nach vorne und wartete. Niemand sprach ein Wort, und nichts geschah.
Bald sahen sie vor sich das Blinken des Blaulichts, das typisch rotweiße Band, das den Tatort absperrte, und davor zahlreiche Menschen.
»Anhalten!«, rief Evi. Sofort stoppte der Wagen. Doris fragte nach dem Preis, doch der Fahrer wollte kein Geld. Er stieg ebenfalls aus und ging um den Wagen herum auf Evi zu.
»Gnädige Frau«, flötete er wie ein Operettensänger, »es war mir eine Ehre, Sie in meinem bescheidenen Gefährt transportiert haben zu dürfen.«
Evi nickte und hielt ihm eine Hand hin, wie es sonst nur Filmdiven, Königinnen und der Papst zu tun pflegen. Der Mann hatte die Bedeutung ihrer Geste offenbar sofort begriffen und nahm entzückt die Hand, die er mit der Routine eines Gentlemans küsste. Dies währte so lange, bis Herbert schnauzte: »Schluss jetzt mit der Handleckerei. Setz dich in dein Auto und verschwinde!«
»Wie Sie wünschen, mein Herr.« Er verbeugte sich ein letztes Mal vor seinen Fahrgästen, stieg seufzend ein und rauschte davon.
Reinhold schüttelte seinen Kopf, Herbert stöhnte Mann, oh Mann, und Margot stellte fünfmal hintereinander die Frage, wie so etwas denn nur möglich sei.
»Fragen Sie Evi«, antwortete Doris und hob fröstelnd ihre Schultern.
Doch Evi war schon weg. Sie hatte sich durch eine Traube von Neugierigen hindurchgeschlängelt, bis sie am Absperrband angelangt war. Von hier konnte sie den gesamten Tatort überblicken.
»Typisch«, vernahm sie hinter sich plötzlich die Stimme eines Mannes. »Diese alten Schachteln sind die schlimmsten Gaffer von allen.«
Evi wandte sich um und blickte einem Enddreißiger in die frech dreinblickenden Augen. Nur zwei Sekunden später hob der schlaksige Kerl das Absperrband und kroch darunter hindurch. Mit großen Schritten eilte er auf die Stelle zu, wo sich Beckergsell und ein anderer Mann über einen am Boden Liegenden beugten und miteinander sprachen.
Der Mann war schon fast am Ziel, als ein Beamter in Uniform Halt! schrie. Als sein Befehl keine Wirkung zeigte, stellte er sich dem Eindringling in den Weg, doch zu seiner Verblüffung erhielt er nicht nur einen Schlag auf den Kopf, sondern auch einen Tritt in den Allerwertesten.
Wie aus dem Nichts schossen zwei weitere Uniformierte auf den mutmaßlich Geistesgestörten zu und bogen seine Arme auf den Rücken.
»Abführen!«, befahl ein vierter, und schon war der Mann in einem Polizeifahrzeug verschwunden. Evis entspanntem Gesichtsausdruck war abzulesen, dass sie nichts anderes erwartet hatte.
Ihre ganze Aufmerksamkeit galt jetzt der Leiche, die keine fünf Meter von ihr entfernt im Rinnstein lag. Sie stutzte und traute ihren Augen nicht. War das nicht…? Nein, unmöglich. Solch einen Zufall konnte es nicht geben. Oder doch?
Beckergsell war weg, aber der andere Mann, vermutlich der Gerichtsmediziner, hockte noch neben dem Toten und betrachtete ihn schweigend.
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