Die Antwort blieben sie ihr schuldig, denn draußen schrillte das Telefon. Wie zuvor marschierten sie zu dritt hinaus, Doris nahm den Hörer ab, und die Freundinnen lauschten.
Als das Telefonat beendet war, wandte sie sich um und blickte in vier gespannte Augen. »Das war nicht Reinhold. Hauptkommissar Beckergsell will mit uns reden. Wir sollen ins Präsidium kommen. Gleich heute noch.«
*
15 Uhr, in Perlstetten
Hauptkommissar Beckergsell von der Perlstettener Kriminalpolizei hatte damals im »Appretur-Fall« ermittelt. Dabei wurmte es ihn bis heute, dass der Mörder nicht ihm, sondern dem Club ins Netz gegangen war.
In den Fall waren noch zwei weitere Personen verwickelt gewesen, nämlich die 13-jährige Pfarrerstochter Barbara Backhaus sowie deren Mutter Charlotte. Beatrice, die um ihren Ruf als Schriftstellerin fürchtete, hatte darauf bestanden, die Polizei nicht über einen Drohbrief zu informieren, den ein Unbekannter mit einer Nagelschere an ihre Haustür gespießt hatte. Der Brief hatte nach einer bestimmten Wäscheappretur gerochen und Beatrice auf den Gedanken gebracht, dass es sich bei dem Unbekannten um Barbara handeln könnte, mit der sie eng befreundet war und deren Kleidung stets derselbe Duft anhaftete. Um das Mädchen zu schützen, bestand sie darauf, dass nur der Club Nachforschungen anstellen dürfe, selbstverständlich top Secret.
Seitdem war über ein Jahr vergangen, und der Club hatte nichts mehr von Beckergsell gehört, doch als man sie wenige Stunden später in sein Büro führte, erschien ihnen alles so wie damals, als sie ihre Aussagen machten.
Weder der Hauptkommissar noch sein Büro hatten sich verändert. Nur der Efeu, der schon damals die beiden Fenster mit seinen Trieben überwuchert hatte, erschien ihnen heute noch undurchdringlicher, wohingegen die gelbe Gießkanne auf dem Fensterbrett immer noch dieselbe war.
»Ich freue mich, Sie alle wiederzusehen«, sagte er freundlich und reichte jedem die Hand. Stühle wurden hereingebracht, sie setzten sich und schauten dem Hauptkommissar erwartungsvoll ins Gesicht.
»Eins will ich Ihnen aber gleich sagen«, begann er und lachte künstlich. »Sie sollen mir nicht bei der Lösung eines Mordfalls behilflich sein.«
»Schade«, meinte Evi. »Es ist Winter, es ist kalt, und in Mänzelhausen erfriert der Hund. So nennt man das bei uns, wenn einem todlangweilig ist.«
»Amüsieren Sie sich denn nicht in Ihrem Club?«, fragte Beckergsell überrascht.
»Amüsieren wäre zu viel gesagt«, antwortete Doris. »Wir sind zu wenige. Am Anfang waren wir zu siebt, und jetzt sind gerade mal fünf übrig.«
»Warum machen Sie nicht Werbung für neue Mitglieder?«, schlug Beckergsell vor, »oder ist Ihr Club so exklusiv, dass keiner hinein darf?«
»Exklusiv ist er«, bestätigte Doris. »Hinein darf man trotzdem, vorausgesetzt man mag Champagner, Mandellikör und altbackene Milchbrötchen, ist entzückt vom Qualm pechschwarzen Tabaks, fürchtet weder Herrn Klöbelschuhs Gedröhn noch ist man irritiert vom Dünkel des Bestatters Kratz. Das Gezänk zwischen den Damen Bandeisen und Klöbelschuh sollte man nicht nervtötend, sondern anregend finden und die Rechthaberei der Frau Braunmeier als die beste Voraussetzung für geistreiche Gespräche loben.«
Dass Frau Bandeisen neuerdings über die Fähigkeit der Gedankenübertragung verfügt, was zukünftig noch zu unterhaltsamen Clubnachmittagen führen dürfte, behielt sie für sich, denn sonst wären Herbert und Reinhold vorgewarnt, und der Spaß wäre verdorben gewesen.
Reinhold hatte sich bis jetzt nichts anmerken lassen und über Doris‘ Liebesgeständnis kein Wort verloren. Er hatte sie nur fragend angeblickt, und sie hatte gelächelt.
»Ich möchte Sie zu unserer Weihnachtsfeier übermorgen einladen«, sagte Beckergsell. »Nichts Großes. Nur die Kollegen und Kolleginnen aus der Abteilung. Die Party wird hier in meinem Büro stattfinden, um jederzeit am Telefon zu sein, falls es Arbeit geben sollte.«
Sie nickten, und Reinhold sagte: »Das klingt vernünftig.«
Beckergsell schwieg einen Moment, was zumindest Herbert als Aufforderung zum Gehen verstanden zu haben schien, denn er stand auf und sagte: »Auf Wiedersehen!«
»Sie können gerne noch ein wenig bleiben«, rief der Hauptkommissar ihm nach, aber dann besann er sich. »Wie ich eingangs schon sagte, bedeutet das nicht, dass wir Bedarf an Privatschnüfflern haben. Trotzdem darf ich Ihnen das Kompliment machen, allesamt recht originelle Typen zu sein. Sie haben Mut, besitzen Instinkt und Kombinationsgabe. Drei wichtige Vorausetzungen für erfolgreiche Kriminalisten.«
Er sah von einem zum anderen, so als erwarte er, dass sie sich vor Dankbarkeit über so viel Huldigung vor ihm verneigten. Immerhin rangen sie sich ein Lächeln ab, nur Evi verzog keine Miene.
Ihre Augen ruhten auf Beckergsell, dessen Kopf mit einem Mal ganz leicht zu wackeln begann.
»Tun Sie’s nicht, Evi«, flüsterte Doris noch, doch ihre Bitte fand kein Gehör.
Der Hauptkommissar schob seinen Stuhl zurück und ging hinüber zum Fenster. Dort begann er, mit einem Finger im Torf der Blumentöpfe zu stochern.
Während der Ermittlungen im »Appretur-Fall« hatte Beckergsell im Beisein des Clubs genau dasselbe getan und am Ende den schmutzigen Finger an seiner Hose abgewischt. Evi hatte ihm daraufhin unterstellt, dass er es typischerweise seiner Frau überließe, seine Hose wieder sauber zu bekommen. Erst später erfuhren sie, dass Beckergsell gar nicht nicht verheiratet war.
Herbert und Reinhold zuckten zusammen, als sie sahen, wie der Hauptkommissar den schwarz gefärbten Finger in den Mund steckte und feinsäuberlich ableckte. Dann zog er ein Taschentuch aus der Hosentasche, tupfte damit seinen Mund ab und sagte: »Lecker!«
»Pfui Teufel!«, meinte hingegen Herbert, worauf Beckergsell erwiderte: »Glutenfrei, wenn schon.«
Reinhold zeigte sich entsprechend seiner sensiblen Natur schockiert über ein derart befremdliches Benehmen einer Autoritätsperson, indem er - wie immer in peinlichen Situationen - seine erstklassig manikürten Hände betrachtete.
Beckergsell hatte sich wieder an seinen Schreibtisch gesetzt. »Darf ich also mit Ihrem Erscheinen rechnen?«
»Wir kommen gerne«, sagte Doris stellvertretend für ihre Freunde, »aber Sie werden uns jetzt entschuldigen. Wir haben etwas Wichtiges zu besprechen.«
*
16.30 Uhr, zurück in Mänzelhausen
Als sie heimkehrten, war es bereits dunkel. Reinhold hatte sich überreden lassen, mit nach Mänzelhausen zurückzufahren, doch sein Gesicht verriet Sorge: »Zwei Begräbnisse und zwei Trauerreden! Seit Stunden sollte ich im Institut bei meinem Mitarbeiter sein. Beckergsell hat aus einer Mücke einen Elefanten gemacht, dieser Wichtigtuer. Die Einladung zu seiner Weihnachtsfeier hätte er auch am Telefon aussprechen können.«
»Es stimmt, was Sie sagen«, pflichtete Doris bei. »Aber es ist meine Schuld. Ich hätte ihn fragen müssen, um was es ging. So aber ließ ich mich von seiner Geheimnistuerei beeindrucken.«
Doch Margot verteidigte die Vorsitzende. »Sie waren ja noch ganz verhext und zu keinem klaren Gedanken fähig.«
»Verhext?«, wiederholte Reinhold, doch Doris wedelte seine Verwunderung mit einer raschen Handbewegung fort.
»Wenn wir schon alle hier sind, können wir auch ins Wohnzimmer gehen und ein Gläschen trinken.«
Herbert, der mit Evi und seiner Frau im Fond saß, ließ es sich nicht zweimal sagen. »Raus mit dir aus dem Auto, Totengräber. Wir haben Durst!«
Doris war schon in der Küche, als sie Reinhold hinter sich bemerkte.
Auf einer Anrichte stand ein Körbchen aus Bast, das zu einem Drittel mit vertrockneten Brotkrumen gefüllt war. Darauf ruhten wie abgezählt fünf Milchbrötchen. Reinhold nahm eins davon in die Hand und drückte es.
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