»Du spinnst ja. Eine Nase macht keinen Hügel, höchstens ‘ne Spitze.«
Schon aus Gewohnheit bewarfen sie einander mit rüden Worten, dass es nur so eine Art hatte. Bis sie bemerkten, dass etwas vom Himmel fiel.
Sie legten ihre Köpfe in den Nacken und blinzelten hoch hinaus.
»Siehst du, was ich sehe?« Miststücks Stimme klang auf einmal beschwingt.
»Ich sehe Schneeflocken«, antwortete Weichei.
»Und wie viele siehst du?«
»Verdammt viele.«
Die veränderte Wetterlage brachte neuen Schwung in die Sache. Der Streit war vergessen, und flugs ging es weiter. Sie wurden richtig ausgelassen, kicherten und hüpften wie die Rumpelstilzchen. Mit Spaten und Füßen pfefferten sie die Erdbrocken auf den Leichnam und stampften sie am Ende mit den knüppelharten Sohlen ihrer Stiefel fest. Als sie fertig waren und es an ihrem Werk nichts mehr auszusetzen gab, stellten sie sich nebeneinander auf und sagten: »Lass uns beten.«
Sie falteten ihre Hände und blickten gen Himmel.
»Lieber Gott, nimm deinen verlorenen Sohn zu dir, - und dann jag ihn zum Teufel!«
Als das letzte Wort gesprochen war, bliesen sie ihre Backen auf, bis die Luft aus ihren Mündern platzte. Sie bogen sich vor Lachen über ihren eigenen Witz, dass sie sich nicht mehr halten konnten und auf die Knie sanken. Vom Quieken und Wiehern waren ihre Gesichter rot angelaufen, während aus den Nasenlöchern Rotz auf den Boden tropfte.
Schnee und Frost scheuchten sie auf, sie schnäuzten sich und husteten Speichel in die Luft, dann schnappten sie den Spaten und machten sich davon.
Es schneite die ganze Nacht hindurch, und als der Morgen graute, zeigte sich dort, wo sich das Grab befand, ein spitzes Hügelchen im Schnee, aber sonst war alles ganz normal.
Verhext - Sonntag, 16. Dezember 2012, in Mänzelhausen
Als Margot Klöbelschuh sich am Abend zu Bett begab, überlegte sie, wann zuletzt Evi ihr im Traum erschienen war.
Herbert, mit dem sie verheiratet war und der ihrer bekümmerten Miene auch ohne Erklärung ansah, was sie gerade beschäftigte, hatte sich neben sie gelegt und die Decke bis hoch zum Kinn gezogen. Er gähnte und nuschelte dazu: »Vergangenen Mittwoch.«
»Dann ist es ja bald wieder soweit«, sagte Margot und wandte sich bedrückt zu ihm hin. »Vielleicht sogar schon heute Nacht, was meinst du?«
Herbert schloss die Augen und nickte: »Das ist so sicher, wie die alte Schachtel jeden Tag den Qualm von hundert Zigaretten inhaliert.«
Kaum dass auch Margot die Augen zugefallen waren, befand sie sich in der Szene, in der Evi Bandeisen ihr auf der Dorfstraße entgegenkommt. Mehrere Zigaretten hüpfen gleichzeitig auf ihrer Unterlippe, andere stecken zwischen Mittel- und Zeigefinger ihrer rechten Hand. Mit der linken wedelt sie mit einem Papierfähnchen, auf dem die blauweiße Schachtel einer französischen Zigarettenmarke abgebildet ist. Sobald sie sich gegenüberstehen, beginnt sie von Gummistiefeln, Hexerei und Mord zu sprechen, ergreift Margots Arm und schleift sie auf High Heels hinter sich her.
Als sie in Doris Braunmeiers Wohnzimmer angekommen sind, liegt am Boden Lothar Bölker, alle Viere von sich gestreckt und bis zum Hals aufgeschlitzt. Evi, nicht im Mindesten erstaunt, schnippt in hohem Bogen die abgebrannten Kippen genau in Doris‘ Kamin.
Margot hingegen ist vom Anblick der halbierten Leiche schockiert. Sie will weg von diesem Ort, nach Hause in ihr Bett, wo die unter dem Biber-Bettlaken auf Stufe drei eingestellte Heizdecke, die helfen soll, ihre Hüfte geschmeidig zu halten, schon seit Stunden ungenutzten Strom verbraucht.
Stattdessen muss sie mitansehen, wie Evi mit beiden Händen an Lothars rechtem Schuhwerk aus schwarzem Gummi zerrt.
»Fassen Sie gefälligst mit an!«, befiehlt sie in rüdem Ton, dass Margot zusammenzuckt.
»Wie denn mit meiner Hüfte?«, wagt sie es zu fragen. »Nur der Gedanke an den bevorstehenden Schmerz ist so schmerzhaft, dass es schmerzt, noch bevor der erste Schmerz überhaupt geschmerzt hat.«
Aber Evi hört gar nicht hin.
Verbissen reißt und ruckelt sie, zieht und zerrt in einem fort, so fest sie kann. Sie beißt die Zähne zusammen und packt mit letzter Kraft noch einmal richtig zu. Es macht wutsch, der Stiefel gleitet ab, doch es steckt noch der Fuß drin.
Sie zieht das blutüberströmte Ding heraus und hält es dicht vor Margots Gesicht.
»Hier, sehen Sie das? Im großen Zeh ist noch das Loch von meinem Pfennigabsatz.«
Sie lässt den Fuß auf den Boden fallen, der, feuchtglänzend und oberhalb des Knöchels ausgefranst, in einen Gully flutscht, der sich wie von Zauberhand im Stäbchenparkett von Doris‘ Wohnzimmer auftut. Das Geräusch, das dabei entsteht, verursacht Margot Brechreiz, und viel fehlt nicht, dass ihr vor lauter Würgen die Luft wegbleibt.
Herbert war aufgewacht und hatte die Nachttischlampe angeknipst. Er stieß seine Frau in die Seite und verdrehte die Augen zur Decke.
»Ich hab’s gewusst. Es waren wieder die Schneiderin und Bölkers großer Zeh.«
Margot war hochgefahren und kämpfte mit einem Hustenanfall, den Herbert mit einem kräftigen Schlag auf ihren Rücken beendete.
»Dieses Mal hatte er Gummistiefel an. Der Rest war wie immer«, keuchte sie.
Herbert hatte das Licht wieder ausgemacht und Gute Nacht gebrummt, aber Margot war stinksauer, und je stärker sich ihre Wut gegen Evi richtete, umso länger dauerte es, bis sie wieder eingeschlafen war.
Als der Wecker rasselte, war es sieben Uhr und noch stockdunkel. Durch die nächtliche Störung sterbensmüde, quälte sich Margot dennoch aus dem Bett. Normalerweise stand sie erst um zehn auf, weil sie als 62-jährige Hausfrau keine Pflichten hatte, die sich nicht genauso gut erst einen halben Tag später erledigen ließen.
Außer montags. Da arbeitete sie für Doris Braunmeier, die Vorsitzende des einzigen Clubs von Mänzelhausen und die reichste Frau im Dorf.
Margot und ihr fünf Jahre älterer Mann Herbert waren seit 2010 Clubmitglieder. Dies galt auch für Evi Bandeisen, die an Gicht leidende 74-jährige Kettenraucherin und Hauptfigur in Margots immer wiederkehrendem Alptraum. Der Fünfte im Club war Reinhold Kratz, 66-jährig und Chef einer Goldgrube von Bestattungsinstitut im zwölf Kilometer entfernten Perlstetten. Herbert nannte den feinsinnigen und stets wie aus dem Ei gepellten Gentleman nur den Totengräber , und Evi war die Schneiderin , weil sie wirklich einmal eine war, sogar mit eigenem Atelier. Doris, die Lehrerin und gleichalt mit dem Bestatter, hatte bis zu ihrer Pensionierung an einem Mädchengymnasium Mathematik und Physik unterrichtet.
Offenbar war sie der Ansicht, dass klug ein Synonym für spröde sei, was die Schneiderin entsprechend ihrem angeborenen Modegespür dazu antrieb, Doris‘ wadenlange Tweed-Röcke und beigegrauen Kaschmir-Twinsets zu geißeln, wo auch immer sich dazu die Gelegenheit bot.
Evi rief Herbert, den glatzköpfigen Haudegen mit den Schaufelhänden, der alle duzte, sogar die Polizei, nur bei seinem Nachnamen, was ihn nicht zu stören schien, und sie, Margot, war eben Margot, so wie sie war: ein wenig rundlich mit gewelltem Haar und überzeugt vom Nutzen ihrer eigenen Rechtschaffenheit sowohl für sich selbst als auch für ihre Mitmenschen.
Die Gründung des Clubs durch Doris war für die Mitglieder gerade zur rechten Zeit gekommen, denn allen war eines gemeinsam gewesen: Sie starben vor Langeweile.
Anfangs hieß er noch Zirkel, doch Margot mochte das Wort nicht, weil es sie an ihre schwierige Schulzeit erinnerte.
Reinhold hatte Gesprächskreis vorgeschlagen und sich damit prompt Evis Hohngelächter eingehandelt. Ob er denn gedenke, eine Selbsthilfegruppe ins Leben zu rufen, und sogar Margot stellte fest, dass es hausbackener ja kaum ginge. Schließlich war Herbert auf Club gekommen, und dabei war es geblieben.
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