»Wie wurde er eigentlich getötet?«
»Bei der Menge an Blut tippe ich auf mehrere Messerstiche.«
»Hat Beckergsell schon einen Verdacht?«
»Gesagt hat er nichts.«
Doris tauchte ihre Zunge ins Glas und rührte damit im bronzefarbenen Likör. In ihren Augen spiegelte sich das rotgelbe Flackern des Kaminfeuers. Sie atmete langsam ein und aus, dann nahm sie die Zunge aus dem Glas und leckte den Zucker von den Lippen.
»Was meinen Sie, Evi?«
»Was schon? Es hat Sie wieder gepackt. Die Detektivin in Ihnen will auf Mörderjagd gehen.«
Doris lächelte über ihr Likörglas hinweg in die listigen Augen der Schneiderin.
»Und was will die Detektivin in Ihnen?«
»Beckergsell beweisen, dass er ein Depp ist!«
Rollenspiele - Ein Tag vor Weihnachten
Zwischen dem 20. und 23. hatte es geschneit. Im Dorf wurde es noch stiller, und Erika Schmontz sehnte händeringend Kundschaft herbei.
Der Club tagte nicht, niemand hatte Lust auf Champagner und Likör, und die Mordermittlungen lagen sprichwörtlich auf Eis.
Nur der Bestatter wusste als Einziger nicht, wo ihm der Kopf stand. Doris hatte zweimal mit ihm telefoniert, wobei er beklagte, dass wiederholt ausgerechnet kurz vor den Feiertagen eine Flut von Leichen über sein Institut hereingebrochen sei.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Menschen sich genau zu diesem Zeitpunkt zu ihrem Ableben entschließen«, seufzte er. »Mit Absicht, so könnte man meinen. Aber die Angehörigen rächen sich, indem sie die toten Leiber sozusagen im Eilverfahren unter die Erde bringen lassen. Dann ist wenigstens Weihnachten gerettet. Für ein Mindestmaß an Pietät sorgt eine Grabrede von mir, mit welcher der oder die Verblichene sogar noch ein Weihnachtsgeschenk erhält.«
Grabreden zu schreiben und vor der Trauergemeinde persönlich zu halten, war vor vielen Jahren die Erfindung eines Konkurrenten gewesen, und Reinhold, begeistert von der Idee, hatte keine Sekunde gezögert, sich dieser für sein eigenes Institut zu bedienen.
Mit großem Erfolg, wie sich schon bald herausstellte.
Reinholds Repertoire an Texten vor allem mit warmherzig-verzagten, aber auch humorig-beschwingten Inhalten hatte sich allein in diesem Jahr mehr als verdoppelt. Gerade aber um Weihnachten und Neujahr herum hatte er es schon wie in den Jahren davor überwiegend mit sarkastisch-bissigen Themen zu tun. Moralisch gesehen widerstrebte es ihm natürlich, den Angehörigen bei ihren kleinlichen Racheabsichten zu Diensten zu sein, andererseits tröstete er sich damit, dass Leichen über kein Gehör mehr verfügten, und darüber hinaus - auch wenn es nicht alles, aber so gut wie alles rechtfertigte - war er Kaufmann. Er kaufte und verkaufte. Särge, Urnen, Zubehör. Und Reden.
*
Montag, 24. Dezember, 19 Uhr, in der Villa Braunmeier
Pünktlich zum Heiligen Abend hatte die Trägheit ein Ende gefunden und der Club sich im überheizten Wohnzimmer der Vorsitzenden versammelt. Es war vereinbart worden, keine Geschenke mitzubringen, aber natürlich hatte sich niemand daran gehalten. Doris hatte vorgesorgt und zwei Gemüsekisten auf den Kopf gedreht, sie mit rotem Krepp-Papier umwickelt und neben den Weihnachtsbaum gestellt. Auf ihnen stapelte sich nun Päckchen auf Päckchen.
Man staunte über die hübschen Verpackungen, die kunstvoll gebundenen Schleifen und die lustigen Namensschildchen, mit dem jedes Präsent, mal mit aufklappbarer Minikarte, mal mit Aufkleber gekennzeichnet war.
»Ich bin gespannt, was die Lehrerin zu essen auftischt. Immerhin ist Weihnachten, da darf man wohl was Besonderes erwarten.«
Herbert saß verkleidet im Sonntagsanzug auf dem Sofa und trommelte mit den Fingerspitzen auf die Armlehne. »Aber ich tippe auf trockenen Käse, versteinerte Laugenbrezel und Mayonnaise von der vorvorletzten Grillparty.«
Wie auf Kommando öffneten sich die Flügeltüren des Wohnzimmers, und herein kam Doris, gekleidet in einer knöchellangen Festtagsrobe aus schwarzem Samt, bei deren Anblick Evi ihr Gesicht verzog und tief Luft holte.
Die Vorsitzende schob den quietschenden Servierwagen routiniert vor sich her, doch Reinhold war schon herbeigeeilt, um das Steuer des störrischen Gefährts zu übernehmen. Doris ließ es geschehen, und auch Evi schien am Heiligen Abend keine Lust auf eine Diskussion über männliche Überheblichkeit zu verspüren. Völlig entspannt zog sie an ihrer Zigarette und blies dann den Rauch in einer steilen Fahne bis hinauf zur Decke, wo der mit Spinnweben eingehüllte Kronleuchter mittig in einem Kringel vergilbten Stucks an einem Haken hing.
Reinhold hatte den Servierwagen an den Wohnzimmertisch herangerollt.
In der Mitte stand der mit Eis und Wasser gefüllte Kühler, in dem sich drei Flaschen Champagner gegenseitig den Platz streitig machten. Darum herum waren sechs Blumentopfuntersetzer aus buntem Plastik arrangiert. Alle waren zum Überquellen mit grünen und schwarzen Oliven, Cocktailgurken, eingelegten Zwiebelchen, Erdnüssen und Mandeln gefüllt.
Auf einem Schneidbrett standen im Quadrat Käsewürfel mit je einer blauen Traube, beides durchbohrt von einem Zahnstocher, der sie am Hinunterrollen hindern sollte. Als Extra gab es hauchdünn bestrichene Butterbrote.
»Und was ist das?« Evis verbogener Zeigefinger stocherte in einer Schicht verschrumpelter Scheibchen, die rot glänzend in Öl schwammen.
»Das sind getrocknete Tomaten in Olivenöl«, belehrte Reinhold. » Ich habe sie mitgebracht. Selbstverständlich original aus Italien.«
»Das soll schon alles sein?«, maulte Herbert.
»Hier sind noch Salzstangen und Kartoffelchips«, beruhigte Doris und wies auf je eine angebrochene Tüte des einst knusprigen Gebäcks. »Aber essen Sie nicht zu viel davon, denn dieses an sich völlig unnütze Zeug enthält mehr Kalorien als eine fette Weihnachtsgans.«
»Gut, dass wir schon zu Hause gegessen haben«, raunte Herbert ins Ohr seiner Frau.
Margot nickte zustimmend. »Da sagst du was.«
Reinhold war aufgestanden und zum Weihnachtsbaum gegangen, den Doris wie schon im letzten Jahr aus Brandschutzgründen gleich neben die Terrassentür platziert hatte. Um die Gefahr eines Brandes zu minimieren, hatte sie erst auf Lametta, dann noch auf Engelhaar und schließlich auch auf die Weihnachtskugeln verzichtet. Nur ein paar Kerzen waren an den dürren Zweigen befestigt.
»Bitte zünden Sie sie doch an«, forderte sie den Bestatter auf. »Und Sie, Herbert, öffnen bitte eine Flasche und schenken ein.«
Evi hatte sich mit einer Flasche Mandellikör selbst versorgt. Doris brachte ein Glas und leerte anschließend den Aschenbecher im Kamin.
»Haben Sie auch genug Zigaretten mitgebracht, Evi?«, fragte Reinhold über die Schulter hinweg, während er die Kerzen aus echtem Bienenwachs anzündete. »In Olafs Kneipe werden Sie heute sicher keine mehr bekommen.«
»Der »Gescheckte Eber« ist ein Gasthof und keine Kneipe«, korrigierte Doris heiter.
»Das wäre er gerne, aber bei dem Wirt wird daraus nichts mehr werden«, entgegnete Evi. »Denken Sie nur an den rosa Schaumwein. Alle sollten glauben, dass es sich um Champagner handelte. Und Uschi stand daneben und hat gegrinst, die dumme Gans.«
»Getrunken haben wir ihn trotzdem«, winkte Herbert ab.
Evi klopfte auf ihre neue, dieses Mal aus Italien stammende Handtasche, die sie on-line bestellt und gerade noch rechtzeitig vor Weihnachten per Paketdienst erhalten hatte. »Darin befindet sich eine Stange mit zehn Päckchen. Auf Ihre Zigarren, Reinhold, werde ich gottlob nicht angewiesen sein.«
Die Bemerkung hatte einen Hintergrund. Evi waren während Lothars stundenlanger Geiselnahme die Zigaretten ausgegangen. Als die Entzugserscheinungen kaum noch auszuhalten waren, erschienen ihr Reinholds Zigarren als letzter Ausweg. Entgegen seiner Warnung hatte sie nach einem mächtigen Zug den Rauch inhaliert, ein Fehler, dessen Folgen ihr bis zum heutigen Tag als das Schlimmste in Erinnerung geblieben waren.
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