Sie entnahm einer bereits begonnenen Schachtel eine Zigarette, und Herbert gab wie immer Feuer.
»Unter welchem Motto steht unsere diesjährige Weihnachtsfeier denn?«, fragte Reinhold.
»Wieso? Das Motto ist Weihnachten, was denn sonst?«, erwiderte Herbert.
»Wie wär’s mit Mord?«, gab Reinhold zurück und sah Doris an, die mit angezogener Augenbraue seinen Blick erwiderte.
»Dann müssten wir über Holger Bölker reden, nicht wahr?«, sagte sie.
»Oh, Sie kennen bereits seinen Namen. Ist er ein Verwandter von Lothar?«
»Sie sagen das so scherzhaft, aber er ist es tatsächlich«, antwortete Evi. »Er war sein Bruder. Ich weiß es von Beckergsell, er hat es mir indirekt verraten.«
»Was heißt indirekt?«, wollte Reinhold wissen.
»Nicht direkt«, antwortete Evi. »Eben indirekt.«
»Also wissen Sie es gar nicht genau, oder was?«, hakte Margot nach.
Evi tat so, als habe sie die Stichelei nicht gehört und sprach ruhig weiter. »Beckergsell war vergangenen Donnerstag im Dorf. Er wollte mit Lottchen und Erika reden. Leider habe ich nicht erfahren, was dabei herausgekommen ist. Erika wollte sich anscheinend an mir rächen, weil ich Sie erst kürzlich auf einen verschimmelten Apfelkuchen aufmerksam gemacht habe. Jedenfalls presste sie ihre Lippen aufeinander und schwieg.«
»Und was ist mit diesem Lottchen?«, fragte Reinhold.
»An dieses Lottchen ist ziemlich schwer heranzukommen.«
»Sie wohnt doch erst seit vier Wochen hier«, erinnerte Margot. »Ich glaube, seit dem 23. November. Ich war bei Erika, da sah ich einen kleinen Möbelwagen vor ihrem Haus. Viel hatte sie wohl nicht zu transportieren gehabt, denn als ich bei Erika fertig war, war der Möbelwagen schon wieder weg.«
»Weil du jedes Mal stundenlang im Bäckerladen rumhängst, um der Schmontz Tratsch aus der Nase zu ziehen«, sagte Herbert.
»Von dem du nicht genug bekommen kannst«, antwortete Margot gelassen.
»Ob sie etwas zu verbergen hat?«, fragte Reinhold.
»Ob die Schmontz was zu verbergen hat?«, höhnte Evi. »Höchstens, dass sie ihrer Kundschaft uralten Kuchen andreht.«
»Ich glaube, die Rede ist von Lottchen«, sagte Doris. Sie fischte gerade mit zwei Fingern eine Tomatenscheibe aus dem Öl, doch beim Versuch, sie über den Tisch hinweg in ihren Mund zu bugsieren, tropfte Öl hinab direkt auf den Rock ihrer Robe.
Vor Schreck schrie sie auf, worauf Herbert auf seine Art Mut machte: »Gut gemacht, Lehrerin.«
»Ich muss Klöbelschuh ausnahmsweise einmal recht geben«, sagte Evi. »Dieses Kleid macht sie wenigstens zehn Jahre älter. Glück für Sie, dass meine Kollektion fast fertig ist.«
Die Schneiderin hatte im Herbst damit begonnen, sechs verschiedene Kleider und Kostüme nach eigenen Entwürfen exklusiv für Doris anzufertigen, eine überfällige Maßnahme, wie sie fand, denn für nichts brachte sie weniger Verständnis auf als für Menschen, die sich bewusst schlecht kleideten.
»Wo waren wir stehengeblieben?«, fragte Doris. Der Fettfleck schien ihr schon keine Aufregung mehr Wert zu sein.
»Bei der Frage, ob Lottchen was zu verbergen hat«, antwortete Margot.
»Da gibt es viele Möglichkeiten«, sagte Evi. »Ihre Herkunft zum Beispiel, oder was sie früher so gemacht hat. Wieso sie hierher gezogen ist. Das ist doch bemerkenswert, oder? Was will sie hier? In diesem Nest.«
Herbert schien begriffen zu haben, wohin diese Diskussion steuerte. »Lottchen Kääsig ist Zeugin. Sonst nichts. Was wollt ihr der armen Frau anhängen? Bölker 2 hat sich ausgezogen, weil die Schneiderin ihn verhext hat. Zufällig bei Lottchen vorm Haus.«
»Was reden Sie denn für einen Unsinn? Wir wollen ihr nichts anhängen«, widersprach Evi.
»Doch!«, beharrte Herbert. »Ich weiß schon, wie das weitergeht. Du sollst ihr einen neuen Mantel schmackhaft machen, dann gehst du zum Maßnehmen hin und horchst sie aus. Woher sie denn eigentlich kommt, und was sie so macht, ob sie verheiratet ist oder war und Kinder hat, ob sie reich oder arm ist, wie viel sie wiegt und was sie von Mandellikör hält.«
»Gar nicht schlecht, Klöbelschuh«, sagte Evi, »aber ich weiß etwas viel Besseres.«
Doris nickte, so als kenne sie die Überlegung der Schneiderin bereits.
»Wir laden Lottchen ein und bieten ihr eine Mitgliedschaft an. Was halten Sie davon?«
»Prima, aber was, wenn sie nicht will?«, fragte Margot.
»Champagner kann niemand widerstehen. Nach zwei, drei Gläschen wird sie ein ganz anderer Mensch sein, nicht wahr, Herbert?«
»Ich weiß nicht, was du meinst, Lehrerin. Ich bin immer derselbe.«
»Wieso überlassen wir es nicht Beckergsell und seinen Kollegen, sich mit dem Fall zu beschäftigen?«, fragte Reinhold, mittlerweile ziemlich gereizt. »Denken Sie nur an Beatrice und Lothar. Eine Katastrophe war das, und wir hatten sie mitverschuldet.«
»Seine Kollegen?«, erwiderte Evi abfällig. »Zwei Trottel sind das. Und Beckergsell stochert lieber in Blumenerde herum als im Fall.«
»Jetzt nicht mehr«, sagte Doris trocken. »Die Blumentöpfe liegen auf der Straße.«
»Ich wette, dass er von Lottchen nicht das Mindeste erfahren hat«, sagte Evi und schloss mit der Bemerkung: »Dem würde ich auch nichts erzählen.«
»Wer kümmert sich dann um Lottchens Einladung?«, fragte Doris.
»Die Sache ist also schon beschlossen«, stellte Reinhold ungehalten fest.
»Sind Sie denn überhaupt nicht neugierig?«
»Ehrlich gesagt, nein.«
»Ich auch nicht«, sagte Herbert, »aber es wird uns nichts anderes übrigbleiben, als mitzumachen, sonst gehören wir ab sofort nicht mehr dazu, und das könnte ich nicht aushalten.«
»Tatsächlich?« Reinhold legte seine Stirn in Falten und meinte nachdenklich: »Also, wenn das so ist…«
»Es ist so, glaub mir, Totengräber.«
»Gut, dann weiter«, drängte Evi. »Ich werde Lottchen persönlich zu uns bitten. Sollte sie sich zieren, werde ich sie schon dazu bringen.«
»Reinhold finde ich dafür besser geeignet«, widersprach Margot. »Bei seinem Anblick werden ihr bestimmt die Knie weich, so entzückt wird sie sein, und Sie können sich Ihre Hexenkünste sparen.«
»Ihr sollen nicht die Knie weich werden, sondern sie soll herkommen und ihren Mund aufmachen«, gab Evi zurück.
»Ich habe keine Zeit«, wehrte Reinhold ab. »In meinem Institut stapeln sich die Verstorbenen. Sie alle müssen noch für ihre Begräbnisse hergerichtet werden, und an die Menge der noch ungeschriebenen Trauerreden mag ich gar nicht denken.«
»Nanu, Herr Bestatter«, wunderte sich Doris. »Sagten Sie nicht, dass sie im Eilverfahren…«
»Ja, also nein. Ich meine…«
»Also ja«, bestimmte Evi. »Sie nehmen Ihren Sargkatalog und gehen damit zu ihr. Und vergessen Sie den Champagner nicht.«
»Und was soll ich sagen?«
»Sie machen Werbung für unseren Club und bitten sie her, ganz einfach.«
»Mit einem Sargkatalog unterm Arm? Und das zu Weihnachten?«
»Na und? Sie sind Geschäftsmann. Da spielt doch das Datum keine Rolle.«
»Für was soll ich denn nun Werbung machen? Für mein Institut oder für den Club?«
»Am besten für beides. So jung ist sie auch nicht mehr. Umso dringender ist es, dass wir möglichst schnell etwas von ihr erfahren. Also keine Widerrede.«
»Und Erika?«, fragte Doris.
»Die übernimmt Klöbelschuh. Sie steht auf ihn«, antwortete Evi.
»Du meinst Uschi«, korrigierte er.
»Umso besser, denn die ist nicht minder geschwätzig.«
»Dann mach du doch die Schmontz«, schlug Herbert vor und meinte die Vorsitzende. »Du könntest mal wieder frisch vertrocknetes Gebäck gebrauchen.«
»Bleibt noch Gabi«, sagte Doris.
»Zu der gehe ich«, meldete sich Margot. »Für einen Einkauf von einem Euro erzählt sie dir alles, was du willst.«
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