Evi hatte das Buch nie gelesen. Sie hätte es sonst den Flammen in Doris‘ Kamin anheimgegeben und genüsslich dabei zugesehen, wie jede einzelne Seite zu Asche zerfallen wäre. Doch ganz egal wie kitschig oder sexistisch es sich anhören mochte: Bei Lottchens Mund traf es genau ins Schwarze.
Zu diesem Mund durften selbstverständlich die braunen, warmen Augen nicht fehlen , auch nicht die schön geschwungenen Brauen , geschweige denn die langen Wimpern und die hohe Stirn. Nicht zu vergessen die aristokratische Nase sowie die ebenmäßigen, schneeweißen Zähne. In Lottchens Gesicht fehlte kein einziges dieser Merkmale. Es war einzigartig, unvergleichlich, beispiellos, oder mit einem Wort: Perfekt!
Doris konnte sich Lottchens Wirkung auf Männer gut vorstellen, ganz besonders an einem Ort wie dem »Schmalen Handtuch«, wo die mutmaßlich miesen Typen verkehrten, von denen sie gesprochen hatte.
Sie dachte wieder an Beatrice und fragte sich, ob es Zufall war, dass ein Jahr nach deren Tod eine neue, schöne Fremde in Mänzelhausen aufgetaucht war.
Hatte Lottchen auf Margots Frage nach dem Grund Ihres Herkommens nicht übertrieben barsch reagiert? Wieso machte sie daraus ein Geheimnis? Ihr musste doch klar sein, dass das Interesse des Clubs jetzt in Neugier umgeschlagen war. Vielleicht aber steckte gar nichts dahinter, und außerdem: Wieso sollte sie einer Handvoll Unbekannten Details aus ihrem Leben erzählen? Immerhin aber wussten sie jetzt Bescheid über ihre Verlobung mit dem Ermordeten.
Es war wirklich allerhand, dass Beckergsell den Mann auf dem Foto nicht von Bertram Poff hatte unterscheiden können, sondern am nächsten Tag darauf aufmerksam gemacht werden musste. Wer weiß, ob er es jemals von sich aus bemerkt hätte.
Sie stand auf und ging dank der erwärmten Luft zum inzwischen eisfreien Fenster, von dem aus sie die Bäckerei sehen konnte. Die Leuchtreklame war an einigen Stellen ausgefallen. Bei Schmontz waren die ersten drei Buchstaben dunkel, und bei Klingelpeltz fehlte das dritte l. Erika ist müde geworden, dachte sie. Ein erleuchteter Buchstabe mehr oder weniger hatte wohl keine Bedeutung mehr für den Erfolg ihres Geschäftes.
Plötzlich vernahm sie neben sich ein melodisches Summen. Sie wandte sich um und ging zurück zum Bett, denn von dort kam das Geräusch.
Es summte weiter, doch Lottchen schien es weder zu hören noch zu spüren. Als es nicht aufhörte, beugte Doris sich über die Schlafende und lüftete ein wenig die Decke. Das Summen konnte nur von einem Handy stammen, das allem Anschein nach in einer der Manteltaschen steckte. Doris schob vorsichtig ihre Hand hinein und zog es heraus. Mit einem geflüsterten Ja? nahm sie den Anruf entgegen.
»Hallo Lottchen«, antwortete die vergnügte Stimme eines Mannes. Im Hintergrund war Gläserklirren zu hören, begleitet vom Lärm anderer männlicher Stimmen.
»Wir sollten uns dringend noch mal unterhalten. Worüber, wirst du dir ja denken können. Morgen um 22 Uhr im »Handtuch«, und zwar pünktlich, wenn ich bitten darf. Ach ja, zieh dir was Hübsches an.«
Der unbekannte Anrufer - Donnerstag, 27. Dezember 2012, 15 Uhr, in der Villa Braunmeier
»Leider war die Nummer unterdrückt«, sagte Doris und hob bedauernd die Schultern. »Sonst könnten wir vielleicht herausbekommen, wer der Anrufer war.«
Sie hatte am Vormittag bei allen Mitgliedern angerufen und eine Sondersitzung einberufen. Alle waren pünktlich erschienen, auch Reinhold.
»In mir tobt das schlechte Gewissen, denn in meinem Institut hat sich mittlerweile ein wahrer Leichenberg aufgetürmt.« Er räusperte sich und fügte hinzu: »Es sind noch zwei besonders Bösartige hinzugekommen, die ihren Angehörigen partout Silvester verderben wollen.«
»Sollten Sie uns nicht verraten, wie es Lottchen geht?«, unterbrach Margot mit schmalen Lippen an Doris gewandt. »Sie bedauern eine fehlende Telefonnummer, und der Herr Bestatter beschwert sich über zu viel Arbeit. Dabei sollte unser Interesse doch eigentlich einem kranken Menschen gelten, dessen Zustand wir verschuldet haben.«
»Krank, haha«, krähte Herbert. »Das ist ja wie damals, als uns die Schneiderin weismachen wollte, dass sie was mit dem Magen hatte und deswegen bis zum Mittag nicht aus dem Bett kam.«
»Aber in Wirklichkeit hatte ich einen Kater«, war Evi behilflich, »und ich habe gesagt, wenn es Sie glücklich macht, dann eben das.«
»Sie schien noch ein wenig müde, aber sonst war sie in Ordnung«, berichtete Doris. »Ich bin trotzdem noch über eine Stunde bei ihr geblieben und riet zu einem Frühstück. Was man so Frühstück nennt. Lottchen scheint eine ähnlich schlechte Hausfrau zu sein wie ich, allerdings war ihr Kühlschrank nicht bis oben hin mit Champagnerflaschen gefüllt, sondern mit kalter Luft. Ich musste also hinüber zu Erika gehen, die ich bei der Gelegenheit fragte, was Beckergsell von ihr wissen wollte. Nichts, was mich etwas angehe, blaffte sie schlechtgelaunt, also können wir Sie abhaken.
Na, zumindest kam ich mit zwei Brötchen und einem Stück trockenen Streuselkuchen zurück. Aber es gab nichts zum drauf tun, und Kaffee hatte sie auch keinen. Nur Dosenmilch, die ich mit heißem Wasser verdünnte.«
»Vertrocknetes Gebäck mit verdünnter Dosenmilch. Und davon ist ihr nicht schlecht geworden?«, fragte Evi.
»Sie musste schon beim Anblick würgen«, antwortete Doris.
»Ist ihr noch etwas zu Poff eingefallen?«, fragte Reinhold.
»Sie hat nicht ein Wort geredet, und ich verstand, dass sie alleine sein wollte. Ich nehme an, dass sie wieder zurück in ihr Bett gekrochen ist, wo sie ihrem Zustand nach zu urteilen immer noch sein dürfte.«
»Haben Sie ihr von dem Anruf erzählt?«, wollte Evi wissen.
»Natürlich nicht, denn dann hätte ich beichten müssen, dass ich ihr Handy aus der Manteltasche gezogen und das Gespräch angenommen habe. Das wäre schön dumm gewesen, denn zum einen hätte ich dagestanden wie eine alte Schnüffeltante, und zum anderen wäre die Chance vertan, mich zum Treffpunkt zu begeben.«
Wie auf Knopfdruck schlug Reinhold mit den Handflächen auf seine Schenkel und rief: »Ich wusste es von dem Moment an, wo Sie den Anruf erwähnten.«
»Sie wollen wirklich dorthin gehen?«, fragte Margot. »Das verstehe ich nicht. Der Typ kennt Lottchen doch anscheinend. Er sprach sie mit Namen an, und er hat ihre Telefonnummer.«
»Sie müssen sich dringend noch einmal unterhalten«, wiederholte Evi. »Also hat er sie entweder schon einmal getroffen, oder sie sprachen am Telefon miteinander.«
»Oder beides«, sagte Reinhold. »Als wen wollen Sie sich denn ausgeben, wenn nicht als die echte Lottchen Kääsig?«
»Ich dachte, mich als eine enge Vertraute vorzustellen. Als eine Art Sekretärin, die sich um ihre Angelegenheiten kümmert, wenn sie verhindert ist oder unpässlich. Ich werde in ihrem Namen mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass sie nicht selbst erscheinen kann.«
Evi sah die Lehrerin an, als hätte diese nicht mehr alle Tassen im Schrank. Dann lachte sie schrill und fasste sich an den Kopf. »Bei allem Respekt, Doris. Aber das ist das Hanebüchenste, was ich seit langem von Ihnen gehört habe. Und dann diese geschwollene Ausdrucksweise. Glauben Sie denn, er ließe sich davon beeindrucken? Er wird sich an die Stirn tippen und Sie fragen, ob es bei Ihnen piept.«
»Es könnte aber auch sein, dass er Doris als Stellvertreterin akzeptiert«, bemühte sich Reinhold um einen versöhnlichen Ton. »Andererseits könnte er sich ausgetrickst fühlen, und das wiederum könnte zu einer höchst heiklen Situation führen. Sie sollten sich das gut überlegen.«
»Sie fürchten sich vor heiklen Situationen?« Doris‘ Stimme hatte einen ironisch-heiteren Unterton angenommen. »Ich wundere mich über Ihr schlechtes Gedächtnis. Als Lothar seinen Verstand verlor, befanden wir uns in einer heiklen Situation. Dagegen ist das hier ein Kaffeekränzchen.«
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