Beim dritten Mal nahm er entnervt den Hörer ab und rief schnippisch hinein: »Was gibt’s, bitte kurz fassen.«
»Wo warst du gestern?« fragte eine Frauenstimme, die er nicht sofort erkannte.
»Wer ist denn da?«
»Hier ist Daniela, wo warst du denn gestern?«
Damit hatte er nun gar nicht gerechnet, er war einfach, ohne die Therapeutin zu informieren, nicht zur zweiten Sitzung gegangen, dasKapitel Gruppentherapie war für ihn erledigt.
»Ich wüsste nicht, was dich das anginge?«
»Nun sei doch nicht gleich so unfreundlich, schließlich will ich dir ja nicht ans Leder. Ich wollte mich einfach nur erkundigen, warum du gestern nicht gekommen bist?«
»Ähm, tut mir leid, dass ich gerade so ruppig war, ist ja sonst nicht meine Art, aber Dein Anruf hat mich sowohl überrascht als gestört.«
»Ist schon gut, also wo warst du denn gestern?«
»So einfach ist das nicht zu erklären« er rang nach Worten »und eigentlich ist deine Frage ja ganz schön übergriffig.«
»Aha, der Herr ist ein Angstbeißer.«
Er wollte schon wütend wegen dieser Unverschämtheit den Hörer auflegen, hörte sie jedoch noch sagen »…mit denen kann ich besonders gut.«
»Wie meinst du das?«
»Angstbeißer trifft Angstbeißer. Kann ich dich denn aus deiner Hundehütte locken und zu einem Kaffee im Café Coco überreden. Zum gemeinsamen Knurren?«
Er musste lachen angesichts solcher Redegewandtheit und ihrer durchaus angenehmen Aufdringlichkeit; ihr Interesse fing an, ihm zu schmeicheln.
»Ok, wann« entfuhr es ihm mit einem großzügigem Blick über seine Arbeit und dem schnellen Entschluss, eine weitere Verlängerung seiner Nachtarbeit unumgänglich zu finden.
»16 Uhr?«
»Ok, aber könntest du mich abholen?«
»Abholen, warum das denn?«
»Nun ja«, druckste er herum, »seit fünf Jahren fahre ich kein Auto mehr.«
»Also gut«, seufzte Daniela, »wenn’s denn sein muss, hole ich dich auch ab.«
Als Sandra die Wohnungstür öffnete, kam aus Michaels Zimmer eine funkige Nummer von Lee Ritenour , leise zwar, doch vernehmbar. Sie kannte das Stück in- und auswendig und fühlte sich nur noch davon genervt, wie auch von Michaels Angewohnheit sich beim Arbeiten über lange Strecken hinweg die gleiche Jazzmusik anzuhören. Sie hatten schon des Öfteren Streit deswegen gehabt. Immer wieder hatte sie ihn gebeten, dann wenigstens und vor allem abends, wenn die Zwillinge ins Bett gegangen waren, die Flügeltür zu schließen. Doch dies hatte er jedes Mal kategorisch abgelehnt, er brauche die Weite des Raumes, damit seinen Entwürfen ebenfalls die Weite innewohne, ihr Vorschlag würde seiner Arbeitsweise und seinem Stil fundamental widersprechen. Er wolle kein kreativer Kleingeist sein und im Übrigen schlössen sich diese beiden Begriffe gegenseitig sowieso aus, ein unversöhnlicher Widerspruch. Einen Kopfhörer hatte er ebenso kategorisch abgelehnt wie die Schließung der Tür. Er erklärte sich dennoch bereit, darauf zu achten, nachdem die beiden Jungen zu Bett gegangen waren, die Lautstärke zu drosseln. Doch dies war ein Versprechen, das er oft brach.
Auch dieses Mal scholl die Musik laut aus seinem Zimmer. Sandra war von ihrem Damenabend zurückgekommen und eilte empört in das Arbeitszimmer. Doch zu ihrer Überraschung war es leer. Dies empörte sie noch mehr, konnte sie doch keinesfalls verstehen und schon gar nicht billigen, dass Michael die Wohnung verließ und die Zwillinge alleine zurückließ – das verstieß gegen ihre beiderseitige Vereinbarung. Die Jungen waren noch zu klein, als dass man sie hätte sich selbst überlassen können. Gerade in dem Moment, als sie nach einem Ziel für ihre Empörung suchte, fiel ihr jedoch ein, dass Michael immer dann, wenn ihm die Zigaretten ausgegangen waren, flugs zum Kiosk um die Ecke eilte, um sich Nachschub zu besorgen. Dessen ungeachtet ärgerte sie sich noch so sehr, dass sie mit der Faust leicht auf den Tisch schlug.
Der Computer war noch eingeschaltet; seltsamerweise war der Bildschirm schwarz, nur in der oberen linken Ecke blinkte die Schreibmarke. Sie signalisierte allerdings – ohne dass dies Sandra klar war - den Ladevorgang des Bildschirmschoners. Durch ihren Schlag bewegte sich die Maus leicht und unterbrach diesen Ablauf und gab dadurch den Blick auf die Arbeitsfläche wieder frei. Sie wusste, dass die Zeit, die verging, bevor sich der Schoner einschaltete, auf fünf Minuten festgelegt war, also konnte Michael noch nicht lange aus dem Haus gegangen sein. Er musste daher jeden Moment zurückkommen.
Sie stellte die Musik ab und wollte schon wieder aus dem Zimmer gehen, als ihr Blick auf ein geöffnetes Textverarbeitungsprogramm fiel. Ganz entgegen ihren sonstigen Gepflogenheiten begann sie zu lesen, vor allem, weil ihr Blick auf das Wort Sandra gefallen war. Der Text stand also in irgendeinem Zusammenhang zu ihr, und da Michael nicht mehr mit ihr über Wesentliches sprach, weder was ihre Beziehung noch was sein Innenleben betraf, er zunehmend verstummt war, Alltagsregelungen eher mürrisch mit ihr absprach, fühlte sie sich beinahe gezwungen, den Text zu lesen. Vielleicht gab er ihr ja die Auskunft, die Michael ihr verweigerte.
Zugleich war ihr die Unbotmäßigkeit ihres Handelns bewusst, die Rechtfertigung für ihr Tun aus Michaels Schweigen zu beziehen, war sogar für sie wie dünnes moralisches Eis, auf dem sie sich bewegte. Was soll denn schon dabei sein rief sie sich zur Räson, er ist ja selber dran schuld, er hätte schließlich seinen Computer ausschalten können, dann hätte er mich nicht in Versuchung geführt. Und damit wischte sie alle Gewissensbisse beiseite; letztendlich kann man sagen, dass nicht nur ihre Not, sondern sicherlich auch ihre Neugierde sie zu diesem Schritt veranlasst hatten.
Also begann sie zu lesen; der Text war eine Art Tagebucheintrag, und als sie weiter scrollte, erschien tatsächlich das Datum durch zwei Leerzeilen deutlich vom vorherigen Text abgesetzt und markierte so eine neue Notiz. Sie ging zum ersten Eintrag und realisierte, dass es sich um tagebuchähnliche Aufzeichnungen handelte.
4. April 2003
Jetzt ist es schon fast ein Jahr her und ich habe nicht das Gefühl, dass sich irgendetwas in diesem Jahr geändert hätte. Ich fühle mich immer noch wie ein Planet, der alleine um einen Stern kreist. Nein, halt, das Bild ist falsch, der Planet wird ja durch Kräfte gebunden, er kann seine Bahn nicht verlassen. Und er ist ein Teil eines Systems – nicht nur ein Teil, sondern er leistet ja auch seinen Beitrag dazu, das System braucht ihn, damit das sorgsam ausgewogene Kräftegleichgewicht erhalten bleibt. Eher komme ich mir vor, wie ein einsamer Komet, der durch die Weiten des Universums fliegt, ohne Herkunft und ohne Ziel und ohne zu wissen, was ich eigentlich hier tue. Merkwürdig ist allerdings, dass ich diese Bilder deutlich vor mir sehe, aber ich fühle nichts dabei. Ich stelle mir vor, jedes damit verbundene Gefühl muss grauenhaft sein, voll von unendlicher Einsamkeit und Trauer. Vielleicht ist es auch gut so, wie es ist. Und wenn ich mir das schon offensichtlich nicht zumuten will, dann ist es auch besser, wenn ich mit niemandem darüber spreche. Ich wüsste auch gar nicht, was ich sagen könnte. Es ist ja immer das Gleiche – und wer will das schon hören. Es sagen sowieso alle, nach einem Jahr müsste ich doch endlich über den Berg sein. Bin ich aber nicht –ich bin noch kein Stück weiter. Und ich habe keine Ahnung, was ich tun könnte, damit ich mich wieder halbwegs »normal« fühle und einfach nur ein Mensch unter anderen bin.
Eigentlich ist es kein Wunder, dass Sandra sich zunehmend mehr bei mir beschwert, sie hätte das Gefühl, ich sei meilenweit von ihr entfernt. Ha, wenn es doch nur Meilen wären und nicht Lichtjahre - ironischerweise haben wir etwas gemeinsam – auch ich bin weit, weit von mir entfernt.
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