1 ...8 9 10 12 13 14 ...17 Stille, Stille, Stille, man hörte kaum das Atmen der einzeln Personen im Raum, jeder wartete, worauf, war nicht ganz auszumachen, aber sie warteten, Stille, Stille, Stille. Als sie unerträglich zu werden schien, eröffnete die Therapeutin die Sitzung: »Guten Abend, meine Damen und Herren, ich heiße sie alle herzlich willkommen zu unserer ersten Gruppensitzung, die von nun an jeden Dienstag für die nächsten drei Jahre um 18 Uhr 30 beginnen wird. Die Regeln für die Sitzung habe ich ihnen ja schon im Erstgespräch erläutert und ich denke, wir sollten gleich beginnen. Ich vermute, dass sie alle mit sehr gemischten Gefühlen hier sitzen, ich schlage vor, dass wir mit einer kleinen Runde beginnen, jeder stellt sich kurz vor und sagt auch ein paar Worte dazu, warum er hier ist.«
Wiederum Stille, nach einer Weile eröffnete die Dunkelhaarige neben ihm die Runde. Erst unsicher und dann mit immer fester werdenden Stimme sagte sie: »Mein Name ist Daniela (Gruppenregel war, dass man sich beim Vornamen nannte), ich bin Lehrerin und mein Problem« und hier zögerte sie etwas, »mein Problem ist, dass ich mir Haare ausreiße.« Übersprung oder Mut, ging es ihm durch den Kopf. Die neun Augenpaare der anderen Gruppenteilnehmer blickten sie erstaunt an und schienen auszudrücken: Das soll ein Problem sein? Doch bei genauem Hinsehen konnte man durchaus erkennen, dass ihr Haarwuchs sehr dünn war, dass an etlichen Stellen die Kopfhaut durchschien, und dass jedes weitere ausgerissene Haar das Verhältnis zwischen Behaarung und Kopfhaut in einer Art und Weise verändert hätte, bei dem sie langfristig über die Anschaffung einer Perücke hätte nachdenken müssen. Aber was wollte sie mit einem solchem Problem hier, schoss es einigen durch den Kopf, damit geht man zum Friseur. Natürlich sagte keiner, was er dachte, immerhin hatte Daniela den Mut besessen zu beginnen und man konnte einfach davon ausgehen, dass Frau Folkert schon wusste, warum sie sie in die Gruppe aufgenommen hatte. Nachdem das Eis gebrochen war, ging es dann Schlag auf Schlag: Erich, der Werbekaufmann berichtete von seiner Herzneurose und seinem Doktorhopping , Uwe von seiner Depression und seinem Traum von einem eigenen Restaurant, Robert davon, dass er in Frauenkleidern onanierte, Judith von ihrem Bruderinzest, Gustav von seinem unerfüllten Kinderwunsch und seiner Zeugungsunfähigkeit, Sigrid davon, dass sie immer an die falschen Männer geriet, Waltraud von ihrer unermesslichen Unzufriedenheit mit sich und ihrem Leben und ihren Suizidfantasien, Brigitte von ihren Abtreibungen und dem Missbrauch durch ihren Onkel. Und dann kam die Reihe an ihn.
Er holte tief Luft: »Mein Name ist Michael, ich bin Architekt, 35 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Ich bin hier, weil ich seit einem halben Jahr schlecht schlafen kann, ich habe entsetzliche Albträume und meine Arbeit leidet sehr darunter.« Neun Augenpaare schauten ihn nun genauso erstaunt wie zuvor Daniela an, und er las in ihnen, dass das doch nun kein wirkliches Problem sei, dafür besorge man sich Schlaftabletten und dann sei die Welt wieder in Ordnung. Ihm war vollends bewusst, dass seine Unterstellung nur Ausdruck seines schlechten Gewissens war, er hatte erneut nur den unwesentlichen Teil seines Problems genannt und war somit seinem nach dem Erstgespräch gefassten Entschluss untreu geworden.
Daniela schaute ihn von der Seite an, nahm sichtlich all ihren Mut zusammen und sagte deutlich vernehmbar: »Das glaube ich dir nicht, ich glaube dir nicht, dass das dein Problem ist, ich glaube, du verschweigst uns etwas.«
Die Therapeutin hielt für einen kurzen Moment den Atem an und überlegte, wie sie jetzt vorgehen könnte. Es war die erste Sitzung, es war immer noch die Vorstellungsrunde, sie wollte jetzt noch keine Konfrontation zwischen den Teilnehmern, das schien ihr zu früh. Diese mussten ja sich erst untereinander kennenlernen, Vertrauen zueinander fassen, der Boden schien ihr für Danielas provokative Frage noch nicht bereitet, auch wenn ihr ihre Frage Respekt abnötigte, hatte sie doch den gleichen Eindruck. »Ich glaube, wir lassen das mal so stehen«, sagte sie, schaute zu Michael und Daniela hin, wie um sich zu vergewissern, ob beide ihre Intervention billigten, und bemerkte, dass beide mit einem leichten Nicken ihre Zustimmung zu erteilen schienen. Michael war in höchstem Maße erleichtert, ja geradezu dankbar für das Eingreifen von Frau Folkert, hatte sie ihn doch vor einer Bloßstellung bewahrt. Er wusste schließlich, worin die Ursache seiner Probleme bestand, von denen die Albträume und die Schlaflosigkeit nur den geringsten Teil ausmachten. Er war müde geworden, sich immer wieder damit zu konfrontieren, über fünf Jahre ging das nun schon und er sah keinen Ausweg, war sogar der festen Überzeugung, dass es gar keinen gab, solange er auch suchen mochte. Die Gruppe hatte seine Hoffnung noch einmal aufflackern lassen, zumal Sandra, seine Frau, ihn nicht nur dazu ermuntert sondern ihm auch gedroht hatte, sie würde ihn verlassen, wenn er nicht endlich etwas für sich täte. Es fiel ihm schwer, ihrer Drohung einen ernsthaften Charakter zu unterstellen, gleichwohl spürte er die ihr zugrunde Hilflosigkeit und die daraus resultierende ohnmächtige Wut.
Er hatte immer lächeln müssen über die reißerischen Klappentexte auf Büchern: Wenn Sie dieses Buch gelesen haben, wird in Ihrem Leben nichts mehr so sein wie vorher! Doch genauso war es bei ihm gekommen. Fünf lange Jahre lag das Ereignis nun zurück, das sein Leben radikal und unumkehrbar verändert hatte.
»Wir sind außerdem am Ende der heutigen Sitzung angekommen, ich danke Ihnen für Ihre Ausführungen und für Ihre Offenheit. Wir sehen uns dann nächsten Dienstag« schloss Frau Folkert die Sitzung.
In der Bahn ließ er die Sitzung Revue passieren: Die Therapeutin verhielt sich so, wie er es erwartet hatte, souverän und nicht aus der Ruhe zu bringen. Die Teilnehmer waren alle sympathisch, Daniela trotz ihres Einwurfes sogar besonders. Gute Ausgangsbedingungen also, sagte er sich, wenn auch nicht besonders überzeugt von seinem vorläufigen Resümee.
»Na, wie war’s?«, fragte Sandra ihn, als er die Wohnung betreten hatte. Sie hatte ihn kommen hören und stand im Flur vor ihm, trug den hellen Pullover mit den aufgenähten braunen Lederflecken an beiden Ellenbogen und ihre Lieblingsjeans. Sie hatte schulterlanges, glattes blondes Haar, das trotz ihres Alters schon mit grauen Strähnen durchsetzt war. Sie weigerte sich, die eindringlichen Ratschläge aller ihrer Freundinnen anzunehmen, sich die Haare zu färben. Wenn sie in den Spiegel schaute, dann sah sie – und dieser Eindruck verstärkte sich noch durch ihre braune Hornbrille – eine 34-jährige Frau, die weise aussah, eben weil sie sich die Haare nicht färben ließ. Im Großen und Ganzen gefiel sie sich, auch wenn sie fand, dass ihr Becken durch die Geburt der Zwillinge etwas zu sehr in die Breite gegangen sei.
Er brummelte ein ok und ging sofort in sein Arbeitszimmer. Er wollte alleine sein und war froh darüber, dass die Zwillinge offensichtlich schon im Bett lagen, denn sonst hätten sie ihn wie gewohnt an der Tür abgefangen. Doch sie kam hinter ihm her, stellte sich in die Tür: »Ein paar Takte mehr könntest du ja schon sagen, sei doch nicht so mundfaul, ich möchte doch schließlich wissen, ob dir die Gruppe helfen könnte.«
In diesem Augenblick ging sie ihm auf die Nerven, aber eigentlich, so musste er sich eingesehen, ging sie ihm schon lange auf die Nerven, schon sehr lange. Ihre Drohung, sie könne die Beziehung aufkündigen, hatte nicht wirklich Eindruck auf ihn gemacht, hatte er doch immer wieder selbst darüber nachgedacht. Bisher war er mit solchen Überlegungen jedoch immer wieder an der gleichen Stelle gelandet: Er wollte den Kindern die Sicherheit einer Familie geben und das verunmöglichte aus seiner Sicht eine Trennung.
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