„Ariana?“ Jazar wunderte sich, weshalb sie nicht reagierte. Er hatte mehrmals nach ihr gerufen. Er hatte sich mit dem Frühstück viel Mühe gegeben. Er hatte gehört, dass die Menschen das Frühstück als die wichtigste Mahlzeit erachteten. Ariana kam nicht aus dem Zimmer. Sorgenfalten zierten Jazars Stirn. Sie war nicht weggelaufen, oder? Er schloss kurz die Augen und konzentrierte sich. Als er ihre Aura wahrnahm, entspannte er sich wieder. Sie war noch in der Wohnung. Genug geschlafen, entschlossen ging Jazar zu ihrem Zimmer und klopfte an. Nichts geschah. Er hielt das Ohr gegen die verschlossene Tür und runzelte die Stirn. Sang sie? Was zum Teufel … Er riss die Tür auf und stolperte in ihr Zimmer. Das Bett war zerwühlt. Ihr Gesang kam aus dem Bad. Ohne darüber nachzudenken, steuerte er darauf zu. Das Bild noch vor Augen, wie sie singend unter der Dusche stand, nackt und unschuldig, wurde seine Vorstellung jäh zerstört. Sofort erfasste er die Lage. Ariana hockte in der Ecke des Badezimmers. Sie wiegte vor und zurück, die Ohren zuhaltend, und sang. Sie konnte ihn nicht sehen, da sie die Augen zuhielt. Alarmiert ging er in die Hocke. Behutsam legte er die warmen Hände auf ihre. Erschrocken riss Ariana die Augen auf und stoppte mit ihrem Gesang. Ihr gequälter Blick aus ihren dunkelbraunen Augen fraß ihn auf. Er sprach zu ihr. Ariana sah die Lippenbewegung, hörte ihn jedoch nicht. Jazar nutzte eine seiner Gaben und drang in ihr Unterbewusstsein ein. Auf diese Weise stellte er den Kontakt zu ihr her. Zum Schutz zog Ariana sich zurück und reagierte regelrecht apathisch.
„Ariana hör mir zu!“, versuchte er mit ihr zu kommunizieren. „Du musst dich auf ein Geräusch konzentrieren und die anderen versuchen, auszublenden, hörst du? Du kannst es kontrollieren, ich weiß es.“ Sein zuversichtlicher Blick gab ihr Mut. Sie wusste nicht, wie sie das anstellen sollte. Ihre fragender Blick gab ihm zu verstehen, was los war. „Konzentriere dich auf die Geräusche in dieser Wohnung. Du kannst alles, was im Moment unwichtig ist, ausblenden. Denk nicht darüber nach und tu es, Ariana!“ Mit Jazars Hilfe schaffte sie es, sich nur auf die Geräusche zu konzentrieren, die sie hören wollte. Es wurde erträglicher, sodass Ariana sich beruhigte. Jazar half ihr auf die Beine und führte sie zur Küche. Beim Frühstück saß sie ihm gegenüber. Sie saßen auf Barhocker und vor ihnen war ein üppiges Buffet auf der Theke angerichtet. Ariana konnte sich zuerst nicht entscheiden, womit sie beginnen sollte, was Jazar ein Lächeln ins Gesicht zauberte. Sie fand das Lächeln umwerfend. Sie errötete und rutschte auf dem Ledersitz nervös hin und her. Sie biss in ein Croissant und beobachtete ihn. Er befüllte den Teller mit Obst.
„Isst du kein Croissant oder eines von den Brötchen?“, fragte sie verwundert. Lächelnd sah er sie direkt an.
„Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es mir nicht gut bekommt“, meinte er.
„Kaffee scheinst du zu mögen“, deutete sie auf die dritte eingeschenkte Tasse. Er lachte.
„Erwischt. Kaffee kann ich ständig trinken, er schmeckt mir gut.“ Ariana sah ihn interessiert an. „Was ist?“, fragte er.
„Bist du ein Mensch?“, platzte es aus ihr heraus. Jazar verschluckte sich und fing an zu husten. Volltreffer! Es gab keine schonende Variante, es anzusprechen. Ariana wollte wissen, was genau Jazar war, ein Mensch mit Sicherheit nicht. Flügel sah sie an ihm auch nicht, dennoch verfügte er über spezielle Fähigkeiten. Er schob den Teller beiseite und lehnte sich zurück. Todernst betrachtete er sie. „Das ist nicht leicht zu erklären“, begann er.
„Wieso habe ich das Gefühl, dass mir die Antwort nicht gefallen wird?“
„Ich bin ein Engel.“ Ariana sah ihn skeptisch an. Als er keine Anstalten machte, darüber zu lachen, wusste sie, dass er nicht scherzte. Ihre Augen flogen über seine Statur, auf der Suche nach einem Beweis. In Schwarz gekleidet, saß er vor ihr. Ein dunkles Shirt, schwarze Jeans und die dunklen Stiefel, fehlte noch der Ledermantel. Mit Sicherheit streifte er ihn über, sobald er das Haus verließ. Und alles an ihm saß perfekt. Sie fand ihn attraktiv zum wiederholten Mal. Bisher machte sie sich nichts aus Männern. Seitdem sie Jazar über den Weg gelaufen war, war alles anders. Ihre Gefühlswelt spielte Streiche mit ihr. Speziell die Tagträume mit ihm verursachten ihr jedes Mal ein Kribbeln in der Bauchgegend. Ariana fühlte sich dauernd ertappt, sodass ihr die Röte in die Wangen stieg. Sie verdrängte das aufkommende Bild vor ihren Augen, indem sein Mund näher kam, bereit für den Kuss. Sie musste sich konzentrieren.
„Ein Engel? Wo sind die Flügel?“, fragte sie provozierend.
„Oh ich habe welche, nur nicht hier auf der Erde. Sie kommen im Himmel zum Vorschein. Ich habe die Menschengestalt angenommen, um nicht aufzufallen.“ Wie er aussah, fiel er ständig auf. Die Frauen mussten ihm regelrecht zufliegen. „Was ist so amüsant?“ Ariana räusperte sich und schüttelte den Kopf.
„Nichts“, wich sie seiner Frage aus. „Und die Männer … wie hast du sie genannt? Die Gefallenen? Sie sind Engel, oder nicht?“ Er nickte.
„Einst waren sie genauso wie ich, im Grunde gehören sie ebenfalls zu den Engeln. Wie ich dir schon sagte, gibt es zwei Seiten. Die guten Engel und die schlechten.“ Sie dachte darüber nach. Wieso ergaben sich ständig weitere Fragen, sobald sie irgendetwas von ihm erfuhr? „Hast du keine Fragen zu dem, was vorhin geschehen ist?“ Sie wägte ab, ob dem so war.
„Ich weiß, was los war. Ich habe sämtliche Geräusche gehört, die im Umfeld waren. Es war erschreckend und ich konnte es nicht abstellen. Das hat mir Angst gemacht“, ergänzte sie. Den Kopf gesenkt, erinnerte sie sich, wie er ihr im Bad geholfen hatte. Mit Sicherheit wäre sie ohne seine Hilfe durchgedreht.
„Ziemlich nüchtern beschrieben. Die erste deiner Fähigkeiten hat sich gezeigt. Ab jetzt bist du in der Lage besser zu hören. Dein Gehör ist dem der Menschen überlegen. Du wirst lernen, damit umzugehen und es für deine Zwecke zu nutzen.“
„Für meine Zwecke? Wofür soll das gut sein, außer das es ständig nervt?“ Ihre ablehnende Haltung wunderte ihn nicht.
„Du wirst es noch zu schätzen wissen. Du bist somit in der Lage eine Bedrohung viel schneller zu erkennen. Und du wirst sie heraushören, sobald sie in der Nähe sind.“ Sie bekam eine Gänsehaut, wenn er so sprach. Nicht wegen dem, was er sagte, sondern wegen der Bedeutung darin. Sie hörte es also, wenn sie kamen, um sie zu holen. Das baute Ariana nicht auf. „Bald entwickelst du ein Gespür, wenn sie in der Nähe sind.“ Ariana wollte nicht daran denken.
„Diese Menschengestalt von dir ist nicht echt? Ich meine, du siehst für andere zwar so aus, aber du bist es nicht, korrekt?“
„Damit scheinst du ernsthafte Probleme zu haben, nicht wahr?“ Sein scharfer Blick durchbohrte sie. Ihr Herz fing an zu rasen, sobald ihre Blicke sich trafen. Bemerkte er das ebenfalls? Diese Spannungen zwischen ihnen? Oder konnte er nichts empfinden? Liebte ein Engel? Gott, ihr Kopf spielte verrückt! Sie musste damit aufhören. Wenn sie nicht aufpasste, verliebte sie sich noch in ihn. Und das war definitiv nicht das, was er wollte. Sie blieb ihm eine Antwort schuldig. Die brauchte es nicht, er wusste es. „Meine Gestalt auf der Erde ist real. Ich finde noch heraus, was es bedeutet.“ Ariana kam zu der Überzeugung, dass ihr Engel es nicht genau wusste. Jazar blieb ihr ein Rätsel. Stirnrunzelnd sah sie auf.
„Kannst du Gedanken lesen?“ Argwöhnisch sah sie ihn an. Sein belustigter Blick traf sie.
„Und wenn es so wäre?“, neckte er sie. Schamröte legte sich über ihr Gesicht. Er brach in Lachen aus und schüttelte den Kopf. „Keine Sorge, diese Fähigkeit habe ich nicht“, ergänzte er. Erleichtert lächelte Ariana ihm zu. Ihre Gedanken waren vor ihm verborgen.
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