Eine halbe Stunde später verlegten wir die Feier vom Hof ins Innere des Gebäudes, um die umliegende Nachbarschaft nicht zu verärgern. Hierbei handelte es sich immerhin um Stammkunden der Metzgerei und es lag auch in meinem Interesse, unnötige Animositäten zu vermeiden.
Den Ortswechsel nutzten nicht weniger als zwei Drittel der Gesellschaft, um sich zu verabschieden. Das war keine große Überraschung, denn vor allem die Pärchen zog es um diese Zeit für gewöhnlich in die eigenen vier Wände, wie ich bereits von anderen Gelegenheiten wusste. Interessanterweise galt das an diesem Abend nicht für Philipp und Silvie, die zum kläglichen Rest der Party zählten, und die selbst nach Mitternacht noch blieben, als sonst nur noch Uwe, Peter und ich übriggeblieben waren.
»Dass ihr noch hier seid!«, platzte es mir dann auch heraus, als wir fünf um den Küchentisch saßen und ein paar kalte Kotelett-Überbleibsel als nächtlichen Snack verputzten.
Das Pärchen mir gegenüber tauschte schuldbewusste Blicke aus. Zumindest machte es auf mich diesen Anschein, aber nachdem ich bereits einige Bierchen im Kreislauf hatte, konnte ich mich ebenso irren. Fragend wandte ich mich an Uwe und Peter, scheiterte jedoch kläglich an dem Vorhaben, mit ihnen Augenkontakt herzustellen. Die beiden waren sturzbetrunken und hatten Mühe, das kalte Fleisch mit ihren bloßen Händen in den Mund zu befördern. Gerade als ich in die Hosentasche fassen wollte, um mit meinem Smartphone ein Video von diesem Schauspiel zu machen, das ich später auf YouTube hochladen würde, ging Silvie auf meine Bemerkung ein.
»Um ehrlich zu sein«, begann sie zögerlich, »gehen wir heute Nacht noch in einen Club. Aber erst um eins.«
»Ah, verstehe«, erwiderte ich und versuchte den Gedanken auszublenden, nur als Übergangslösung zu fungieren.
»Die Feier war übrigens total klasse, nicht wahr, Philipp?«
Silvie stieß ihm auffällig den Ellbogen in die kurzen Rippen.
»Total klasse«, wiederholte er papageienhaft. »Und das Essen war ausgezeichnet. Ich kann mich nicht erinnern, schon einmal so viel Fleisch auf einmal gegessen zu haben.«
Die beiden sahen mich reumütig an und für einen Moment fühlte ich mich tatsächlich ein wenig verletzt. Dieses Gefühl verflog jedoch sofort wieder, als Philipps letzte Worte in mein Bewusstsein sackten.
»Freut mich, dass es geschmeckt hat«, sagte ich mit geschwellter Brust. »Das ist doch das Wichtigste.«
So war es auch wirklich. Für mich zumindest. Ein Leben ohne schmackhaftes Essen war für mich unvorstellbar. Könnte ich dieser Leidenschaft nicht mehr nachgehen, hätte auch alles andere keinen Sinn mehr.
Silvies Smartphone vibrierte plötzlich ein paar Millimeter über den Tisch.
»Oh, das ist eine Freundin von mir«, teilte sie mir mit, als sie die Nachricht vom Display las. »Sie holt uns für den Club ab. Ich habe ihr deine Adresse gegeben, ich hoffe, das ist in Ordnung.«
»Klar. Kein Problem.«
Ich wusste nicht, ob sie mich hörte, denn sie tippte wie wild auf ihrem Touchscreen herum. Kaum hatte sie das Smartphone wieder aus der Hand gelegt, vibrierte es erneut. Scheinbar war ihre Freundin noch schneller im Tippen als sie selbst. Ehrlich gesagt bewunderte ich das, denn ich selbst hatte bereits Mühe, in fünf von zehn Fällen die richtigen Buchstaben zu erwischen.
»Sie ist schon unten vor der Metzgerei.«
Auffordernd blickte Silvie mich an, doch es vergingen einige Sekunden, bis ich kapierte, was sie von mir wollte.
»Ich kümmere mich darum.«
Mit Mühe quetschte ich mich am Tisch und an Uwe vorbei, dann ging ich zum Fenster, öffnete es und blickte auf die Straße hinunter. Die nächste Laterne war zu weit entfernt, als dass man etwas deutlich hätte sehen können, dennoch erkannte ich eine Gestalt, die sich hin und her bewegte.
»Hey!«, rief ich hinunter. »Komm zum Seiteneingang, dann lass ich dich rein!«
Unterstützend machte ich mit meiner Hand eine übertriebene Geste in jene Richtung, die Silvies Freundin einschlagen sollte. Das Fenster ließ ich gleich offen, denn die frische Nachtluft war merklich besser als der abgestandene Dampf, der sich in unserer Küche gesammelt hatte. Auf dem Weg nach unten stürzte ich beinahe zweimal über meine eigenen Füße, wobei ich erst merkte, wie betrunken ich tatsächlich war. Sitzend war mir das nicht so schlimm vorgekommen, aber jetzt schien das gesamte Haus unter einem extremen Wellengang zu leiden. Dieser war schlussendlich auch der Grund, warum ich mit vollem Schwung – den ich von der Treppe mitnahm – gegen die Eingangstür knallte.
»Ahhhhh! Verdammt!«, schrie ich vor Schmerzen und presste meine linke Hand gegen die Stirn, die den größten Teil der Wucht abbekommen hatte.
Mit der rechten Hand öffnete ich instinktiv die Tür, nur um ein weiteres Mal mein Leid lautstark zu beklagen.
»So eine Scheiße aber auch!«
»Hallo«, hörte ich eine fremde, aber ungewöhnlich sanfte Stimme sagen. »Mein Name ist Isa.«
Als ich die Hand von der Stirn nahm und meine zusammengekniffenen Augen so weit wie möglich öffnete, erblickte ich vor mir die schönste Frau, die ich je gesehen hatte.
Kapitel 4: Die schönste Frau der Welt
»Schimmel«, stammelte ich. »Tim. Tim Schimmel.«
Mein Name klang schon nicht besonders geistreich, wenn ich ihn nur einmal nannte, aber wusste der Teufel wieso ich mich auf diese Weise vorstellte. Warum hatten mich meine Eltern auch unbedingt Tim nennen müssen? Nichts gegen den Namen an sich, ich mochte ihn sogar, aber in Kombination mit meinem Nachnamen kam ich mir vor, als wäre ich einer Zeichentrickserie mit sprechenden Tieren entsprungen. Andererseits konnte ich meinen Eltern keinen Vorwurf machen, denn es gab wohl keinen Namen, der wirklich zu Schimmel passte.
»Schön, dich kennenzulernen, Tim.«
Isa berührte mich kurz mit ihrer Hand am Oberarm und schon wurden meine Knie weich wie Butter. Ich war mir zu neunzig Prozent sicher, dass es dieses Mal nichts mit dem Alkohol in meinem Kreislauf zu tun hatte, sondern dass es einzig und allein auf den Kontakt mit diesem zauberhaften Wesen zurückzuführen war.
»Isa Schimmel«, fantasierte ich in Gedanken vor mich hin und revidierte meine bisherige Überzeugung: Es gab also doch einen Vornamen, der wunderbar zu Schimmel passte. Ob sie wohl derselben Meinung war?
»Kann ich reinkommen?«
»Natürlich! Selbstverständlich!«
Hastig trat ich einen Schritt zur Seite, stieg dabei auf einen Schuh und knickte infolgedessen mit meinem linken Fuß um. Der Schmerz dachte nicht daran, sich langsam über mein Bein nach oben zu arbeiten, nein, es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, ehe ich zu schreien begann, als würde man mich bei lebendigem Leib abfackeln.
»Aua! Aua! Aua! Auaaaaaaaaa!!!«
Es vergingen einige hechelnde Atemzüge, in denen ich alles um mich herum vergaß und um baldige Erlösung flehte.
»Geht es wieder?«
Engelsgleich trat die Stimme an mein Ohr, aber ich konnte mich nur kurz an ihr erfreuen, da mir im nächsten Moment klar wurde, was für einen mimosenhaften Anblick ich gerade liefern musste.
»Ja, alles in Ordnung«, antwortete ich mit der tiefsten Stimme, die ich zustande brachte.
Es verstand sich von selbst, dass ich sie damit nicht täuschen konnte. Isa hatte mich zweifelsfrei nicht in meiner männlichsten Stunde angetroffen, und so wies ich ihr mit gesenktem Haupt den Weg nach oben in die Küche. Wie ein begossener Pudel trottete ich hinter ihr her. Jedes Mal, wenn ich den linken Fuß belastete, zuckte ich unwillkürlich zusammen.
Oben wartete bereits Silvie auf uns. Sie hatte einen leicht besorgten Gesichtsausdruck aufgesetzt.
»Alles klar bei euch?«
Mein Geschrei durfte scheinbar bis in die Küche vorgedrungen sein.
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