Ein neues Hörgerät. Das erklärte einiges.
»Nun ja, Sie können Ihr Hörgerät wenigstens abschalten, wenn Sie einmal Ihre Ruhe haben wollen«, sagte ich. »Das Alter hat eben auch seine Vorteile.«
Ich lächelte sie freundlich an, da ich mir sicher war, mit meiner humoristischen Äußerung bei ihr gepunktet zu haben.
Dem war jedoch nicht so.
Irritiert sah sie mich von oben bis unten an, als wäre ich im Bauarbeitergewand zu einem Gala-Dinner erschienen.
»Ähm, wie viele Schnitzel wollten Sie gleich noch einmal?«
Mein Vater versuchte die Aufmerksamkeit wieder auf sich zu lenken, um die peinliche Stille zu beenden, die entstanden war. Frau Steeger bestellte vier Stück und noch zweihundert Gramm Fleischpastete.
»Möchten Sie auch noch ein Stück Schinken?«, fragte ich.
»Nein«, antwortete sie recht harsch, »sonst hätte ich doch ein Stück Schinken bestellt.«
Ungläubig schüttelte sie den Kopf, als hätte ich ihr ein unmoralisches Angebot für eine leidenschaftliche Nacht unterbreitet. Anschließend verabschiedete sie sich höflich von meinem Vater und spürbar distanzierter von mir, ehe sie die Metzgerei verließ.
»Behauptest du nicht immer, dass du so gut mit den Kunden umgehen kannst?«
Ich musste mir einen skeptischen Blick meines Vaters gefallen lassen.
»Kann ich auch. Und das weißt du genau. Die letzten drei Monate musste ich immer mit ihr schreien, damit sie wenigstens ansatzweise verstanden hat, was ich gesagt habe. Woher hätte ich wissen sollen, dass sie sich endlich ein Hörgerät zugelegt hat?«
»Ein guter Verkäufer weiß solche Sachen.«
Er sah mir fest in die Augen und ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte. Plötzlich begann er bananenförmig zu grinsen.
»Ich verscheißere dich nur, Junge.«
Mit einer flinken Bewegung kam er hinter der Theke hervor und packte mich mit seinen großen Händen an den Schultern. Hätte mich ein anderer Mann mit solcher Kraft angefasst, würde sich jetzt der Inhalt meiner Blase entleeren. Im Fall meines Vaters genoss ich die ungestüme Berührung aber sogar, denn es kam nicht allzu oft vor, dass er seine Gefühle auf diese Weise kundtat.
»Alles Gute zum Geburtstag!«
Um dem Ganzen nun auch noch die Krone aufzusetzen, umarmte er mich sogar, was mich fast schon ein wenig verlegen machte. Dieser herzliche Moment zwischen Vater und Sohn wurde schließlich durch das deutlich hörbare Grummeln meines Magens gestört.
»Hunger?«
»Du kennst mich doch«, antwortete ich, als er sich wieder von mir löste.
»Mettwurst?«
Ich lächelte ihn bejahend an. Er kannte mich tatsächlich.
»Wie viele Leute kommen denn heute?«, wollte er wissen, während er zwei Mettwürste unter der Glasvitrine hervorfischte.
»Zur Party?«, fragte ich zurück und setzte mich an einen der beiden Tische, die sich in der Metzgerei für Imbisskunden befanden. »Zwanzig. Fünfundzwanzig.«
»Wie viele nun?«
Ein kurzes Zögern meinerseits.
»Nicht mehr als dreißig«, sagte ich.
Es war kein Geheimnis, dass mein Vater keine Freude an großen Menschenansammlungen hatte, und er konnte es noch weitaus weniger leiden, wenn sich eine solche Ansammlung in seinem Innenhof breitmachte.
»Keine Sorge«, fügte ich beschwichtigend hinzu, »das sind alles meine Freunde, die werden sich schon gut benehmen.«
»Dreißig Freunde? Wenn ich alle meine Freunde einlade, dann sind wir gerade einmal genug, um ein paar Runden Skat zu spielen.«
Obwohl ich nicht wusste, welche Anzahl von Spielern man für Skat brauchte, verstand ich, worauf er hinauswollte.
»Es sind auch nicht meine engsten Freunde«, gestand ich, »die meisten sind wohl eher Bekanntschaften. Aber nett sind sie trotzdem.«
Mein Vater brachte mir die Mettwürste sowie drei Scheiben Schwarzbrot, die herrlich frisch dufteten und sogar noch warm waren.
»Solange ihr nicht so laut seid, dass die Polizei antanzt.«
Ich lächelte ihm zu und nickte, versprach in diesem Moment aber vorsichtshalber nichts, was man später hätte gegen mich verwenden können. Danach nahm ich sowohl von einer Wurst als auch vom Brot einen herzhaften Bissen und genoss die Geschmackskombination in meinem Mund.
»Und wie sieht es bei den Mädels aus, die kommen? Ist da eine für dich dabei?«
Der »Ich-will-einen-Enkel-und-Stammhalter-Blick« meines Vaters war mir nicht unbekannt, doch der plötzliche Überfall hatte mich durchaus überrascht. Unwillkürlich atmete ich tief ein, was grundsätzlich eine blöde Idee ist, wenn man den Mund gerade voll hat.
»Ähm ...«, brachte ich in einem schrillen Ton heraus, dann begann ich wie verrückt zu husten.
Es dauerte eine endlos scheinende Minute lang, bis sich die letzten Bröckchen so weit von meiner Luftröhre entfernt hatten, dass ich wieder halbwegs normal atmen konnte.
»Papa!«, war schließlich das Erste, das ich vorwurfsvoll über die Lippen bekam.
»Was? Du bist jetzt sechsundzwanzig! In deinem Alter habe ich schon dafür gesorgt, dass unser Familienname weitergegeben wird.«
»Es wäre auch zu schade, wenn es plötzlich keinen Schimmel mehr geben würde.«
Selbstverständlich hatte ich mir das nur gedacht, anderenfalls wäre ich meiner potentiellen Enterbung bereits einen großen Schritt näher gewesen.
»Das waren noch andere Zeiten«, sagte ich stattdessen. »Heutzutage bekommen viele erst später Kinder.«
»Mag schon sein, aber du hast ja noch nicht einmal eine Frau, mit der du überhaupt Kinder machen könntest. Sieh doch mal zu, dass sich da wenigstens mal was tut.«
Selbst wenn es ein wenig harsch klang, konnte niemand abstreiten, dass er recht hatte. Meine sogenannten Beziehungen bisher waren kurz und bedeutungslos gewesen, und im Augenblick war diesbezüglich ohnehin Funkstille angesagt. Im Meer der Liebe tuckerte ich mit einem alten Kahn dahin, wobei ich weder ein Navigationsgerät noch Benzinreserven besaß, die mich in den nächsten Hafen bringen konnten.
»Mann, Mann, Mann, sieh dir nur an, was ich für ein Zeug rede«, meinte mein Vater nach einer schweigenden Pause. »Hör einfach nicht hin. Ich klinge ja schon fast wie deine Mutter. Erzähl ihr das bloß nicht!«
Aufmunternd klopfte er mir auf die Schulter.
»Du wirst schon noch die Richtige finden, keine Sorge.«
Sein Lächeln wirkte versöhnlich und aufbauend. Ich lächelte ihm ebenfalls zu, dann zerriss ein Klingeln die Stille. Das Glöckchen über der Eingangstür der Metzgerei kündigte das Eintreten von Frau Huber an. Sie war seit vielen Jahren Stammkundin, die uns ausschließlich samstagvormittags beehrte.
»Frau Huber!«, rief ihr mein Vater entgegen und sprintete hinter die Theke, als wollte er an den nächsten Olympischen Spielen teilnehmen.
Ich blieb sitzen, nahm einen neuerlichen Bissen von der Wurst und kam nun nicht drum herum, über mein Leben nachzudenken. Es war immerhin nicht so, dass ich mich nicht nach einer Partnerin gesehnt hätte, aber sich einfach so zu verlieben und geliebt zu werden, das war leichter gesagt als getan. Gut möglich, dass andere damit weit weniger Schwierigkeiten hatten, aber mir fehlte es in dieser Hinsicht an gewissen körperlichen Attributen und bestimmt auch an einer Portion Selbstbewusstsein.
Dennoch: Wenn ich nicht ewig allein bleiben wollte, dann musste ich tatsächlich endlich einmal die Initiative ergreifen, denn es war höchst unwahrscheinlich, dass die Frau meiner Träume aus heiterem Himmel an meiner Tür klingeln würde, nach dem Motto: »Hallo, darf ich mich vorstellen?« Auch wenn das – zugegeben – ziemlich praktisch und genau nach meinem Geschmack gewesen wäre.
Als ich das Brot und die Würste verputzt hatte, tendierte ich dazu, diese ganze Angelegenheit fürs Erste auf sich beruhen zu lassen. Ich war jetzt bereits so lange Single, da würde es auf ein paar Tage, Wochen oder Monate nicht mehr ankommen. Außerdem dachte ich nicht daran, mir meine Geburtstagparty von einer mittelstarken Sinnkrise verderben zu lassen. Das Vorbereiten des Grillfleisches würde zudem meine ganze Konzentration in den nächsten Stunden in Anspruch nehmen, da durfte ich mich nicht mit unnötigem Firlefanz ablenken.
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