»Alles Gute zu deinem Geburtstag!«
Ansatzlos trat meine Mutter an mich heran und umfasste mein Gesicht mit ihren großen Händen. Ehe ich mich versah, hatte sie mir auch bereits zwei dicke Küsse auf meine Wangen gepresst, woraufhin sie mich stolz anblickte. Mühselig versuchte ich zu lächeln, allerdings fiel es mir schwer, meine Gesichtsmuskeln entsprechend zu bewegen. Zu kraftvoll war mein Kopf von ihren Händen umschlossen.
»Daaaan...keeee«, presste ich umständlich zwischen meinen Lippen hervor.
»Ich kann kaum glauben, wie alt du schon bist.«
Das war ein Satz, den man bis zum neunzehnten Lebensjahr mit höchster Verzückung hört, immerhin suggerierte er, dass man nun zur Welt der Erwachsenen gehört. Ab Mitte zwanzig hatte sich das – zumindest bei mir – schlagartig geändert. Jetzt hörte es sich vielmehr so an, als hätte ich bereits einen Großteil meiner Existenz mit Nichtigkeiten vertan und nicht einmal die Hälfte von dem erreicht, was möglich gewesen wäre.
»Sind das Würstchen?«
Meine Aufmerksamkeit richtete sich unweigerlich auf jene Plastikverpackung, die aus einer der Einkaufstüten ragte. Wie auf frischer Tat ertappt zuckte meine Mutter zusammen. Infolgedessen entließ sie mein Gesicht in die Freiheit und machte einen Schritt zurück, um besagte Tüte von meinem Blick abzuschirmen.
»Ach, das ...«, begann sie in unschuldigem Tonfall, »das ist nur, weil ...«
Auf der Suche nach einer plausiblen Ausrede wurde sie offensichtlich nicht fündig.
»Wenn Papa das sieht«, sagte ich und zog meine Augenbrauen bedeutungsschwanger nach oben.
Meine mahnenden Worte verfehlten die Wirkung nicht, denn wir beide wussten, dass mein Vater fuchsteufelswild werden würde, wenn er erfahren sollte, dass meine Mutter sich ihre Würstchen woanders besorgte. Da hätte er es höchstwahrscheinlich noch eher ertragen, wenn er sie beim Fremdknutschen erwischte.
»Aber die sind nun einmal so lecker. Es ist doch nur einmal.«
Ich blickte sie forschend an.
»Im Monat«, ergänzte sie.
Es fiel mir schwer, nicht zu lächeln.
»Höchstens alle vierzehn Tage«, gestand sie letzten Endes.
»Ist ja schon gut«, beruhigte ich sie, »von mir erfährt er nichts.«
Voller Dankbarkeit ging wieder die Sonne in ihrem Gesicht auf. Sie kam auf mich zu und drückte mich herzlich an ihren Busen. Diese Art der Umarmungen fürchtete ich seit meinen Teenager-Tagen.
»Dafür bekommt mein Dickerchen heute auch die beste Geburtstagstorte aller Zeiten!«
Ich erhielt einen Klaps auf den Hintern, dann schnappte sich meine Mutter die Einkaufstüten und machte sich auf den Weg ins Haus. Vorsichtshalber ging sie dabei nicht durch die Metzgerei, sondern durch den Seiteneingang.
Den Kopf schüttelnd sah ich ihr nach und fragte mich, ob ich auch noch mit fünfzig ihr Dickerchen sein würde. Ein kurzer Blick an mir hinab gab mir die Antwort. Sofern ich nicht etwas aktiv für eine Veränderung tat, standen die Chancen ziemlich schlecht, dass sich mein speckiger Bauch einfach in Luft auflöste. Doch ehrlich gestanden fehlte mir die nötige Motivation. Essen war nun einmal ein zentraler Bestandteil meines Lebens und wozu sollte ich auf etwas verzichten, das ich am liebsten in Hülle und Fülle genoss?
»Vielleicht würdest du mit ein paar Kilogramm weniger Fett und ein bisschen mehr Muskelmasse diesen Grill leichter herausheben können“, flüsterte mir meine innere Stimme zu, doch wie gewöhnlich ignorierte ich diese.
Alternativ beschloss ich, den neuen Grill zu packen, und ohne groß darüber nachzudenken, über die Kante des Lieferwagens und auf den Bürgersteig zu hieven. Ich fasste ihn oben mit beiden Händen, zählte bis drei, holte tief Luft und zog mit aller Kraft. In der nächsten Sekunde hatte ich den Aufsatz abgetrennt, der mit dem Grillrost verbunden war.
Meiner ersten Einschätzung nach sah es nicht so aus, als wäre dieser Teil dazu gedacht, an jener Stelle abgetrennt zu werden. Die Bruchstellen am Rand legten diese Vermutung nahe. Zumindest aber hatte ich nun etwa zehn Prozent des Grills bereits aus dem Wagen herausbekommen, was als Leistung nicht unterbewertet werden durfte.
Im zweiten Ansatz hielt ich es dennoch für ratsamer, das Gerät weiter unten anzufassen. Und siehe da: Nach einer neuerlichen, beherzten Kraftanstrengung war es mir wahrhaftig gelungen, den Grill am gewünschten Ort zu platzieren. Das schlagartig einsetzende Stechen im Rücken würde mich zwar mit Sicherheit den restlichen Tag quälen, aber das war nur halb so schlimm. Immerhin handelte es sich dabei um einen typischen Männerschmerz, der per Definition aus übermäßiger Eitelkeit und/oder Dummheit entstand. Ein Männerschmerz konnte noch so schlimm sein, da musste vorher schon die Hölle zufrieren, bevor man sich einen solchen anmerken ließ. Aus diesem Grund würde auch ich den Teufel tun und darüber jammern, es sei denn, mir fiel später noch ein überzeugender Vorwand ein.
Aber erst einmal wollte ich den Grill an seinen neuen Heimatplatz unter dem Vordach im Innenhof bringen.
Durch zwei an der Unterseite montierte Räder war das keine Hexerei, wenngleich sich jener Griff, der zum Ziehen gedacht war, auf dem von mir versehentlich abgetrennten Teil befand. Dennoch war der Grill keine fünf Minuten später an der vorgesehenen Stelle eingerichtet. Die beschädigte Oberseite mit dem Rost befestigte ich notdürftig, sodass man kaum etwas von dem minimalen Fehlschlag bemerken würde. Es war ohnehin nur ein optischer Makel, denn in seiner Funktionsweise war der Grill natürlich nicht eingeschränkt.
Und genau das würde ich heute Nachmittag unter Beweis stellen.
Die Vorfreude in mir stieg von Sekunde zu Sekunde ins Unermessliche, doch zugleich nahm ebenso das Hungergefühl in meiner Magengegend zu. Ich hatte heute Morgen ja noch nicht gefrühstückt – was bei mir höchstens ein- bis zweimal pro Jahr vorkam – und mittlerweile fühlte sich meine Bauchregion so an, als hätte sich dort ein riesiges Loch gebildet. Ein Blick nach unten bestätigte mir allerdings, dass meine ausgeprägte Bauchwölbung nach wie vor da war. Auf mein Hungerempfinden hatte das freilich keinen Einfluss.
Ein Frühstück gestaltete sich bei mir in der Regel wie bei anderen Menschen auch: Zwei Scheiben Schwarzbrot, zwei Scheiben Weißbrot, ein Croissant, Butter, Käse, Schinken, Konfitüre, ein Ei, etwas Speck und im Anschluss ein paar Kekse, ein Stück Kuchen oder einfach nur eine halbe Tafel Schokolade. An manchen Tagen – wie am heutigen – war ich jedoch auch mit einigen Mettwürsten und Brot zufrieden. Und die besten Mettwürste der ganzen Stadt hatte zweifellos mein Vater in seiner Metzgerei.
»Junge!«, rief er laut aus, als freute er sich ehrlich, mich zu sehen. »Du kennst doch Frau Steeger.«
Er deutete weit ausholend auf die kleine Frau, die ihm gegenüber auf der anderen Seite der Theke stand. Sein theatralisches Herumfuchteln und Deuten wäre im Übrigen nicht notwendig gewesen, da nur eine einzige Kundin anwesend war.
»Selbstverständlich. WIE GEHT ES IHNEN, FRAU STEEGER?!«
Da ich mich erinnerte, dass die alte, kleine Dame über kein besonders gutes Gehör verfügte, passte ich die Lautstärke meiner Stimme den Umständen an.
»Wieso schreit Ihr Sohn denn so mit mir?«
Hilfesuchend wandte sie sich an meinen Vater, der mich nun wiederum nicht mehr so erfreut anblickte.
»Sie wissen doch, Frau Steeger«, begann er und setzte sein typisches Verkäuferlächeln auf, das er immer dann benutzte, wenn er sich etwas Zeit verschaffen wollte, ehe er sich eine garantiert unwahre Antwort auf eine Kundenfrage aus den Fingern sog, »draußen auf der Straße ist es immer so laut. Wenn man dann hereinkommt, muss man sich erst einmal wieder an die Ruhe gewöhnen.«
»Erzählen Sie mir nichts«, erwiderte Frau Steeger und mein Paps sah im ersten Moment das Kartenhausgebilde seiner Ausrede in sich zusammenstürzen, »seit ich mein neues Hörgerät habe, werde ich ständig mit Geräuschen beschallt, die ich überhaupt nicht hören will.«
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