Das scheint in meinem Fall so zu sein, wie es bei anderen mit dem Gähnen ist. Man kennt das ja, kaum reißt jemand in der Nähe den Mund auf, glaubt das eigene Gehirn, dass man selbst auch unter Sauerstoffmangel leidet, und schon gähnt man, was das Zeug hält. Bei mir ist das nicht so. Gähnende Menschen sind mir eigentlich ziemlich schnuppe. Dafür bekomme ich eben jedes Mal Hunger, wenn ich einen dünnen Menschen sehe. Aus diesem Grund kann ich mir auch Germany’s Next Topmodel nicht ansehen. Da fresse ich sonst den halben Kühlschrank leer.
Meine Fastfood-Zeiten bereue ich keineswegs, denn sie gehören zu den besten Erinnerungen, die ich an meine Kindheit habe. Mein Leben – und zu einem gewissen Grad auch das von Uwe und Peter – sollte sich aber von Grund auf verändern, als ich von meinem Vater in die Kunst des Grillens eingeweiht wurde. Es ist nicht weniger als eine Offenbarung, wenn man zum ersten Mal in ein Stück beißt, das man eigenhändig – beziehungsweise aus Sicherheitsgründen mit der Zange – auf dem Grill so lange wendet, bis es Perfektion erreicht hat.
Natürlich wusste ich damals noch nicht einmal ansatzweise, was wahre Perfektion auf diesem Gebiet bedeutete. Erst nach und nach entwickelte ich mich vom blutigen Anfänger zu einem Grillmeister, der es mit den Besten der Besten aufnehmen konnte. Erfahrungen sammelte ich zunächst während unserer sommerlichen Familiengrillabende, die zwischen April und Oktober zwei- bis dreimal pro Woche stattfanden. Je nach Witterung warfen wir beizeiten sogar im Dezember oder Januar den Grill an, aber das waren nur abenteuerliche Ausnahmen.
Eines Sonntagabends durfte ich Uwe und Peter zu einem familiären Grillbeisammensein einladen, woraufhin sich am nächsten Tag in der Schule die Kunde wie ein Lauffeuer verbreitete: »Der Dicke kann grillen!« Das war im Jahr, in dem wir unser Abi machten, und mit meiner Rolle als Außenseiter hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt längst abgefunden. Von den laufend stattfindenden Partys hatte ich zwar gehört, nachdem ich aber nie eingeladen worden war, hatte ich diesen keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Das sollte sich mit meinem neuen Ruf allerdings schlagartig ändern.
Die Sache war die: So cool und beliebt einige Jungs in unserer Schule auch waren, keiner von ihnen hatte auch nur ansatzweise eine Ahnung davon, wie man einen Grill bediente. Ein solches Unterrichtsfach hatten wir nicht am Gymnasium. Und selbst wenn wir es gehabt hätten, wären sie zweifellos überfordert gewesen. Ob das nur an unserer Schule der Fall war, konnte ich nicht sagen, aber es war nämlich so: Je beliebter ein Typ war, desto weniger hatte er in der Birne. Das war den Mädels offensichtlich egal, was ich nicht nachvollziehen konnte, doch auch in diesem Fall hatte ich mich mit den gegebenen Umständen abgefunden. Wenig Hirn, dafür aber ein großes Haus mit Garten und Pool reichten wohl aus, um den gesellschaftlichen Ansprüchen zu genügen und die weiblichen Herzen zu erobern. Zumindest bis zu jenem – für mich schicksalshaften – Tag.
Jens – der mich seit Monaten nicht einmal mit dem Hintern angesehen hatte, obwohl wir bereits gemeinsam im Kindergarten gewesen waren – dürfte von den Lobpreisungen auf meine Grillkunst Wind bekommen haben. Während der Pause kam er zu mir, zog mich ein Stück zur Seite und machte mir ein – aus seiner Sicht bestimmt äußerst gönnerhaftes – Angebot. Ich war unter der Voraussetzung auf seine – Zitat – »Mega-Party« eingeladen, wenn ich dort den Grilldienst übernehmen würde. Tatsächlich war ich sehr aufgeregt, hielt mich jedoch so gut es ging zurück und stellte die Bedingung, dass auch Uwe und Peter kommen durften. Ein verächtliches Lächeln von Jens fixierte den Deal und der Rest ist Geschichte, wie man so schön sagt.
Die Party war ein voller Erfolg Die kommenden Wochen und Monate war ich nun im Dauereinsatz über den glühenden Kohlen. Meine Popularität stieg so rasant an, wie ich es mir nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ausmalen können. Wo immer ich auftauchte, wurde ich von freundlichen Gesichtern empfangen, was meinem Ego zweifelsohne guttat. Selbstverständlich begegnete ich den neu entstehenden Freundschaften anfangs skeptisch, da mir bewusst war, dass ich nur als Mittel zum Zweck fungierte. Mit der Zeit änderte sich das allerdings, denn nach und nach wurde das Verhältnis zu diesen Leuten authentischer. Mit niemandem verband mich zwar eine so enge Beziehung wie mit Uwe und Peter, dennoch erweiterte sich mein Freundeskreis in den nächsten Jahren ungemein.
Mein ganzes Leben hatte sich somit zum Positiven verändert und das verdankte ich einzig und allein meiner Liebe zu gegrilltem Fleisch.
Hierbei ist anzumerken, dass ich mich schon sehr früh geweigert hatte, mit x-beliebigem Fleisch zu arbeiten. Das Geheimnis des guten Geschmacks liegt nämlich keineswegs allein bei der korrekten Handhabung desselbigen über der Glut, sondern vor allem an der Herkunft und der Qualität. Mir war schon immer ein Rätsel, wie man der Meinung sein konnte, fünfhundert Gramm Schwein oder Rind zu einem Schnäppchenpreis im Discounter zu erwerben, ohne hierbei Kompromisse einzugehen. Wenn der Preis das wichtigste Kriterium ist, dann habe ich hierfür natürlich vollstes Verständnis, denn Geld wächst nach wie vor nicht auf den Bäumen. Richtig schlimm finde ich es hingegen, wenn sich ein sogenanntes Vier-Sterne-Restaurant in derselben Abteilung bedient, dafür aber den stolzen Preis eines kompletten, lebenden Tieres verlangt. Ich für meinen Teil setzte meinen guten Ruf nicht leichtfertig aufs Spiel und verwendete deshalb aus tiefster Überzeugung das Fleisch meines Vaters.
Nur damit hier keine Missverständnisse entstehen, ich spreche hierbei nicht von Kannibalismus. Mein Vater befindet sich in guter und ganzheitlicher, körperlicher Verfassung, ich würde nicht im Traum daran denken, ihm ein Haar zu krümmen. Er hingegen hatte es sich zum Beruf gemacht, Tieren durchaus an den Kragen zu gehen und sie in Einzelteilen und verarbeitet zu verkaufen. Seine Metzgerei war schon über zwanzig Jahre gut im Geschäft, als ich nach meinem Abi in das Familienunternehmen einstieg. Der Erfolg war in erster Linie seinem leidenschaftlichen Einsatz und seinem handwerklichen Können geschuldet. Seine buchhalterischen Fähigkeiten hatten damit bestimmt nichts zu tun, denn diese waren schlichtweg nicht vorhanden gewesen, wie ich bald feststellte.
Zwei Dinge lernte ich im Betrieb meines Vaters schnell. Erstens schien das Finanzamt bei Weitem nicht so streng zu sein wie sein Ruf, andernfalls hätte die Metzgerei schon längst zusperren müssen, was nicht am mangelhaften Umsatz, sondern an den nur sporadisch vorhandenen Belegen liegen würde. Zweitens arbeitete ich für mein Leben gerne mit Schweinekoteletts, Rindsmedaillons, Hähnchenkeulen und dergleichen, jedoch nur dann, wenn diese bereits ... sagen wir ... entsprechend vorbereitet waren. Hingegen schlägt mir der Prozess, wie aus einem grunzenden Schwein eine Vielzahl an Koteletts wird, gehörig auf den Magen. Es genügte deshalb auch, dass ich mir bei unserem ersten gemeinsamen Besuch im Schlachthof die Seele aus dem Leib kotzte, um mein zukünftiges Aufgabenfeld anders abzustecken.
Ich war ohnehin besser im Büro oder hinter der Theke aufgehoben, in beiden Bereichen konnte ich glänzen. Im ersten Jahr, in welchem ich die Einnahmen-Ausgaben-Rechnung sowie die Belegsammlung übernahm, entdeckte ich genügend Sparpotential, um unseren Gewinn im darauffolgenden Jahr um zehn Prozent zu erhöhen. Zudem liebte ich den Kontakt mit den Kunden und es gelang mir fast immer, dass sie das Geschäft mit mehr Waren verließen, als sie eigentlich hatten kaufen wollen. Das hatte nichts mit ausgewieften Verkaufstaktiken zu tun und es lag mir auch fern, die Leute über den Tisch zu ziehen. Jedoch schien meine aufrichtige Begeisterung für alles, was mit Fleisch und Wurst zu tun hatte, bei den Menschen gut anzukommen und meine diesbezüglichen Empfehlungen wurden nur allzu gerne angenommen.
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