Max sah das Ergebnis des aktuellen Auftrags noch diffus vor Augen. Der Weg indes war klarer. Da war der Rücken von Jordan Ganter. Der alte Mann ahnte nichts von der Annäherung hinter seinem Buckel. Sein Auftraggeber hatte eindrücklich auf die Gefährlichkeit von Hilda Fritzelshues hingewiesen, im Brief und per Telefon. »Der einzige Grund, der einzige, warum noch niemand von uns durch ihre Hand, warum noch niemand von ihr getötet – verstehen Sie? Der einzige Grund ist, sie fürchtet die Bestrafung! Was hat sie gekuscht bei dem Mann von dieser Folterstelle, wo nach den Misshandlungen gefragt wurde, nichts gefunden wurde, natürlich – man hat sie über den Besuch auch vorher in Kenntnis gesetzt, sagt man doch vor einer Razzia immer Bescheid in diesem, ach – auf jeden Fall, nehmen Sie sich in Acht. Ich kann es nur betonen. Nehmen Sie sich in Acht!«
Es würde nicht einfach werden, Ganter von der Notwendigkeit zu überzeugen, für Fritzelshues das Lockmittel zu spielen. Max wollte Jordan Ganter versichern, dass ihm nichts geschehen werde. Eine Maus kannte Käse. Hilda Fritzelshues benötigte einen Anziehungspunkt, den sie kannte und der es vermochte, sie von den anderen zu separieren, möglichst an gelungen gelegener Stelle. Max hatte mit Ganter über die verschiedenen Aktivitäten der nächsten Wochen und Monate konferiert – das Gesprächsvolumen seines neuen Telefons wurde pauschal abgerechnet, weshalb sie sprechen konnten, ohne auf die Uhr achten zu müssen, wie Max stolz festgestellt hatte – und so waren sehr unterschiedliche Tatorte ins Visier von Max' Überlegungen geraten.
U wie Unfall. N wie Natürlicher Tod. Utz Entle hatte diese beiden Stichworte in die Königsklasse des Mordens einsortiert. »Gelingt es Ihnen, interessierter Leser, einen Mord wie einen Unfall oder einen natürlichen Tod aussehen zu lassen, haben Sie, wenn Sie den Ausdruck gestatten, das Klassenziel erreicht.« So hatte es der Oberst geschrieben. Um dies zu gewährleisten, sei eine umfangreiche Vorarbeit nötig. Recherche und Planung, Beobachtung des Objekts und Abwägung der Mittel. Max war nach den bisherigen Erkenntnissen zu dem Schluss gelangt, den Auftrag nicht zur Gänze allein ausführen zu können. Er benötigte einen Partner, anders ausgedrückt, er musste seinem Opfer eine Falle mit einem realistischen Köder stellen. Der Tatort sollte mit dem Alltag des Ziels wenig zu tun haben, am besten gar nichts. War das Ziel an die Örtlichkeiten gewöhnt, konnte es Veränderungen frühzeitig bemerken und misstrauisch werden. Plätze im und um das Altenheim herum kamen somit überhaupt nicht in Frage. Ein Zeitfenster sollte unabhängig von der Wahl des Tatortes eng begrenzt sein. Je weniger Zeit für die Tat zur Verfügung stand, desto unwahrscheinlicher war ein geplanter oder ungeplanter Mord für den außen stehenden Betrachter.
»Hast du einen neuen Freund?« Emilie biss in ihr drittes Vanillekipferl.
»Einen neuen Freund? Wo soll ich einen neuen Freund herhaben? Ich lern doch keinen kennen.« Max schindete Sekunden.
»Du hast mit einem Jordan telefoniert. Ich hab dich gehört. Ihr ward vertraut miteinander, hatte ich den Eindruck.« Es war ein Winternachmittag, wie Emilie sie seit ihrer frühesten Kindheit mochte. Süßigkeiten, heiße Getränke, vielleicht einen Eierpunsch oder einen Glühwein in erwachsenen Jahren, und sie war versucht, Max danach zu fragen, sträubte sich aber noch, da ihr das Beisammensein im Augenblick perfekt erschien und sie, wie sie sich in warme Watte eingelullt fühlte, glücklich war.
»Jordan?! Ach, der ist kein Freund. Ach, nein, der nicht. Das ist, der ist nur alt, wie ich, wir. Sonst nichts. Wir haben uns beim Einkaufen getroffen und gequatscht. Ein paar Mal. Nachher haben wir Telefonnummern ausgetauscht. Wir sind beide nicht gut zu Fuß. Und der Kaffee im Café ist zu teuer. Jetzt vielleicht gerade nicht, aber, ja, er muss es ja nicht wissen. Auch sonst keiner.« Er machte eine Pause. »Du sagst es doch auch keinem?«
Emilie lehnte sich zurück, merkte, wie die Anspannung aus den Muskeln wich, alles weicher wurde, gegen die hohe Lehne gedrückt. »Wem sollte ich es sagen?«
»So ganz aus der Welt bist du nicht.« In der Tat gab es mehr Menschen, die mit Emilie sprachen als mit ihm. Max traf diese Feststellung neidlos. Sie hatte den Mitleidsbonus, der andere anzog. Sein Stock, so beschloss er, galt anderen als zu wichtigtuerisch und stieß ab. Offene Zeichen der Schwäche kamen nie gut an, fand er, sie vermittelten ein unbegründetes Gefühl der Ansteckungsgefahr. Im Sinne einer körperlichen Behinderung war das selbstverständlich ausgemachter Blödsinn. Emilies Blindheit hingegen, gepaart mit ihrem elegant alten Aussehen, der leichten aristokratischen Hilflosigkeit, lockte andere Menschen an, als schauten sie ein Orakel einer vergangenen Epoche.
»Ich sag nichts«, meinte Emilie. Ihre hellen Augen sahen an ihm vorbei, zum Fenster, wo die Lichter funkelten.
Er wünschte, sie könnte die bunten Farben sehen. Ein Wunsch, der niemals wahr werden konnte. Er wünschte, ihre Verwirrtheit kehrte nie mehr zurück und die Entrückungen aus der Gegenwart blieben vereinzelte Ausrutscher. Die Prognose der Ärzte widersprach diesem Wunsch. Es würde schlimmer werden. Wie sehr oder wann, das konnte oder wollte ihm niemand sagen. Max griff nach ihrer Hand, er bedeckte sanft ihre Finger, so runzelig, fleckig, so zart wie eh und je, wenn er die Augen selbst schloss und in die Vergangenheit reiste, an die verschiedenen wichtigen Punkte ihrer Zweisamkeit, die länger und länger geraten war. Ein Jahr, noch ein Jahr, bis zum zehnten, dem zwanzigsten, dreißigsten, vierzigsten Hochzeitstag, und wie die Zahl schier unglaublich war, betrachtete man sie von der Warte eines jungen Max Heiliger aus. Wie die Zahl am Ende zu einem gigantischen Geschenk anwuchs, dem Gefühl nach unverdient und derart mit Liebe angefüllt, dass die Brust bei dem Gedanken an sie zu platzen drohte und Tränen das Herz überfluteten, gejagt von dem Gedanken, diese Zeit, so ewig sie schien, werde einst enden.
»Ist doch nur Spaß«, sagte Max. »Mein ich. Aber wir müssen auch vorsichtig sein. Es hat sich so viel geändert. Und Leute werden für weniger überfallen.« Und getötet, fügte er in Gedanken hinzu. Der Tod war es auch, der dem Weihnachtsnachmittag den Zauber nahm, denn Tod war das hauptsächliche Thema von »Der kleine Mordratgeber« vor ihm auf dem Tisch.
»Willst du mir etwas aus dem Buch vorlesen?«
»Bitte?«, fragte Max, vollkommen aus den Gedanken gerissen.
»Das Buch? Hast du das auch neu? Ich höre dich täglich darin blättern. Und es ist dick. Hab ich gefühlt. 1000 Seiten?« Emilies Hand tastete nach den Butterplätzchen.
»Mehr. Etwas mehr als 1000«, antwortete Max langsam. »Ist ein Fachbuch. Deshalb so dick. Das wird dich nicht interessieren. Ist übers Lkw–Fahren. Heutzutage.« Er seufzte theatralisch. »Ich vermisse das.«
Emilie schmunzelte. »Tust du nicht.« Dann lächelte sie breit. »Nein, tust du nicht. Du vermisst das nicht.« Nach drei Sekunden fragte sie mit ängstlichem Timbre: »Was steht in dem Buch? Wirklich?«
»Wie man den blöden Schwager loswird«, erwiderte Max lapidar. Seinem Ton war nicht anzumerken, ob er es ernst meinte oder nicht.
Sie erkannte, dass er ihre Frage nicht zu beantworten gedachte. »Ich weiß, du magst ihn nicht.« Ihre Stimmung schlug um. Weihnachten war nur ein Geruch. Eine Temperatur draußen. Weihnachten war kein Gefühl mehr. »Ich will mich hinlegen. Ich bin müde«, quengelte sie plötzlich. Sie stand vom Tisch auf, sicherer als in jener Nacht, in der er sich mit Maria Deller getroffen hatte. Jeder Handgriff saß. An der Tischkante entlang hinüber zur Küchenzeile waren die einzelnen Schritte genau bemessen, die Bewegungen präzise in den wachen Momenten memoriert. Emilie blieb an der Küchentür stehen. »Du sagst mir noch, was in dem Buch steht? Oder?«
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