Das Treffen fand am helllichten Tag in einem Mietshaus statt, wie es sie in ihrer Gegend noch zuhauf in Keysaburg gab. Vor dem ersten Weltkrieg erbaut, von den Bombardements verschont, da das Kleinstädtchen im Teufelsdreieck von Dortmund, Bochum und Hagen übersehen worden war, waren die Häuser dennoch mehr Abrissgebäude als wirklicher Wohnraum. Heute waren kaum Alteingesessene, ganz bestimmt keine jungen Menschen in ihnen zu finden. Max und seine Emilie hielten in einem der besseren Häuser die Stellung, kriegerisch gesprochen, weil Ratten sich neue Territorien eroberten, und diese wiederum von Wanderarbeitern vertrieben wurden, die eine Saison dort hausten, nicht einzogen und nach wenigen Monaten wieder verschwunden waren. Maria Dellers Haus, in dem sie nach eigener angeberischer Aussage nicht allein wohnte, das ihr nämlich auch gehören sollte, hatte von außen den Anschein, als stehe die Abrissbirne schon bereit, sei im Schwung begriffen, der zerstörerische Aufschlag einzig eine Frage von Sekundenbruchteilen. Jeder Schritt brachte ein Knarren und Knarzen, ein Bröckeln und Rascheln. Die kahle Glühbirne im Treppenhaus knisterte fröhlich bedrohlich. Auf dem Treppengeländer, aus Holz und schön gedrechselt, blätterte seit Jahrzehnten der Lack ab. Im diffusen Licht der ungeputzten Scheiben, dem milchigen Glanz, mit diesen Strahlen, die auch so unheilvoll durch Kirchenfenster schienen, waren Max frühzeitig die Risse im spröden Holz des Geländers aufgefallen, harte Kerben, die sich bis in den Sockel zogen, ein ausgetrockneter Blitz, der auf den rechten Moment der Explosion wartete.
»Ich bezahl dich nicht.« Der Nachdruck in Maria Dellers Stimme hätte nicht sein müssen. Sie wartete ab. »Ich hab mich abgesichert«, sagte Maria Deller, als Max nicht reagierte und sie nur anstarrte. »Wenn mir was passiert.« Sie ließ das Ende des Satzes offen.
Wäre sie herzlicher gewesen, Max hätte es verstanden, hätte sich bemüht, es zu verstehen. Ihre Absicherung? Ein Brief vielleicht? Oder ein Bluff? So provozierte sie Widerstand. Eine Machtprobe stand bevor. In Max' Berufsleben als Lastwagenfahrer, später als Nachtwächter in Fabrikanlagen und Hausmeister in Wohnanlagen, waren ihm die verschiedensten Werkstoffe begegnet. Holz, alle Zeit so lebendig, beeindruckte ihn. Er kannte es aus seiner Zeit in einem Großhandel, wo er Bauhölzer abgeholt und zu Baustellen gefahren hatte. Max Heiliger sah die Kerben, erkannte die Schwachstellen, sah, wo ein Tritt genügte, um ein Segment von wenigstens einem Meter Länge aus dem Geländer zu brechen. Dort, wo Maria Deller stand. Er dachte, wie es aussähe, fiele sie die zwei Stockwerke ins Treppenhaus hinab, auf die schwarzweißen Fliesen im Eingangsbereich. Ein Bluff? Wer würde ihr glauben, wenn es keiner war? Es gab keine Beweise, keine Aufzeichnungen. Max war instinktiv bereit, das Risiko einzugehen. Er hörte den Knall ihres Aufschlags mitleidslos im gedanklichen Ohr und spürte die aufkeimende Befriedigung über die Tat, die ihm zwar kein Geld, aber immerhin Genugtuung verschaffte ...
»Ich hab einen neuen Auftrag für dich«, sagte Maria Deller in die Stille des Augenblicks.
I wie Impulsivität. Impulsivität, dozierte Utz Entle sehr ernsthaft, ist der Tod eines guten Plans. Wer impulsiv handelt, begeht Fehler, ist ganz einfach dumm. Wer sich von Impulsivität übermannen lässt – die keinesfalls gleichzusetzen ist mit einem kreativen Impuls, der den menschlichen Genius beweist – wird über kurz oder lang gefasst werden. Und geschieht dies nicht, ist dies nur unverschämtem Glück zu verdanken. In den seltensten Fällen wird ein Mörder auf Dauer mit dieser bequemen und dummen Vorgehensweise davonkommen. Wenn Sie, lieber Leser, so hatte es der Oberst geschrieben, einen Anflug der Impulsivität spüren, ihre Gefühle Sie zu übermannen drohen, bremsen Sie sich schnellstens. Eine bewährte Technik: halten Sie den Atem an! Konzentrieren Sie sich genau auf diesen Vorgang. Halten Sie den Atem an. So lange Sie es vermögen. Bis Sie rot anlaufen, falls notwendig.
Max Heiliger hielt die Luft an. Er hörte Maria Dellers Stimme wie durch Watte. Auftrag? Noch ein Auftrag? Von ihr? Sie zahlte den ersten schon nicht und hatte nun einen weiteren Auftrag, für den ebenfalls kein Geld zur Verfügung stand? Max' Gesicht färbte sich rot. Nach lediglich dreißig Sekunden schnappte er nach Luft. »Ich werde dich nicht töten«, hauchte er, und es war ihm gleichgültig, ob sie es verstand oder nicht.
Die Frau schlug das Wintercape zur Seite und senkte sich mit theatralischem Talent auf die Stufen vor Max hin, verschwieg ihm aber, wie beschwerlich es für sie war, halb gebückt auf ihn herabzublicken. Die Stufe gab unter ihrem Mindergewicht hörbar nach. Ihre Gesichter waren nun auf gleicher Höhe. »Das habe ich auch nie gedacht«, flüsterte sie. »Wir stehen auf derselben Seite. Ob dir das passt oder nicht. Ich hab dir den Auftrag gegeben. Du hast ihn ausgeführt. Gut übrigens.«
Max nickte bloß. Ihr Lob galt ihm nichts.
»Ich werde zahlen«, sagte sie, mürrisch über die eigene Feststellung, »wenn ich kann. Wenn ich noch mehr Mieter gefunden habe. Weißt du, wie schwer es ist, gute Mieter zu finden?« War da ein Schaudern auf ihrem Gesicht? »Zahlende Mieter«, fügte sie schnell an. »Zahlende Mieter. Von der anderen Sorte habe ich genug.«
»Weißt du, wie schwer es ist, einen guten Auftrag, einen zahlenden Auftraggeber zu finden?« Das verschmitzte Lächeln rutschte ihm einfach so raus.
»Deshalb hab ich Auftraggeber, die zahlen können«, erwiderte Maria Deller schelmisch. Der Humor fand keinen Weg in ihre Augen.
»Auftraggeber? Mehrzahl?«
»Mehrere, ja. Aber nur ein Auftrag. Und weil's so ein guter ist, will ich Provision.« Selbstzufrieden suchte sie eine größere Nähe, fast Nasenspitze an Nasenspitze, mit einer Vertrautheit, die Max abstieß, bis es ihm dämmerte, Maria Deller wolle ihn nicht etwa küssen – eine grausige Vorstellung – sondern nur sein Gesicht sehen. Ohne Brille, die sie sich nicht leisten konnte, war seine Mimik nach spätestens einem halben Meter Entfernung ein verwaschener Fleck. Sie hatte ihn da draußen vor dem Schrottplatz in der gaffenden Menge überhaupt nicht gesehen. Ihr sich zu ihm hinwendendes Gesicht war eine rein zufällige Bewegung gewesen.
Unfreiwillig stockte Max der Atem. »Provision? Eine Vermittlungsgebühr?«
Ein Aufschlag für ihre Vermittlung, überlegte Max, mit dem Kopf schüttelnd in dem Moment, da er vor dem Altersheim stand, in dem sich einige betagte Menschen entschlossen hatten, ihr Leiden auf den letzten Metern zu verringern und einen boshaft sadistischen Pfleger um die Ecke bringen zu lassen. Ein Jugendfreund hatte Maria Deller seinen Ärger geklagt, wie der Tag im Heim mit Angst begann und endete, ein Alptraum, den sie selbst nicht beenden konnten, da das Böse mit Argusaugen und Kameras über sie wachte. Wer keine Angehörigen mehr besaß oder solche, die sich nicht blicken ließen, weit weg waren oder kein Interesse an den Alten hatten, war dem Heiner Fritzelshues auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Mit kleinen Zettelbotschaften, auf Klopapier notiert, die sich im Entdeckungsfall aufessen ließen, hatten sich sechs Männer und Frauen auf die Maßnahme verständigt, den Fritzelshues unter die Erde zu bringen. Doch nach dem freudig erregten Bejahen der Aktion – einstimmig, versteht sich, kindisch besprochen, versteht sich auch – haderten sie monatelang mit dem Wie. Wie sollten sie es denn machen?
»Sie wollten schon immer wissen, wie man's macht ... und wie man damit davon kommt?«, zitierte Max Heiliger den Werbespruch auf der Rückseite von »Der kleine Mordratgeber« leise und traute sich noch nicht durch den breiten, prachtvollen Eingang des Altenheims. Nichts von den Schilderungen der Deller gab ihm einen Anreiz, sich frühzeitig in die Vorhalle zu begeben, an die Anmeldung zu gehen und sich mit seinem Kontaktmann zu treffen. Max Heiliger gluckste im Stillen beim Wort Kontaktmann. Er hatte einen Kontaktmann!
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