H wie Humanes Töten. Ein Gentleman tötete human, gar keine Frage. Utz Entle sprach diesen Aspekt zeitweilig in seinem Buch an und plädierte für die Senkung der Hemmschwelle des Tötens im Fall einer berechtigten Vorgehensweise. B wie Berechtigtes Töten. Human und Berechtigt. Beides waren große Worte. Humanität fand sich in der Realität nicht so oft, wie es jene gerne hätten, die diesen Begriff großflächig verwendeten. Und eine Berechtigung war immer eine Frage des Standpunktes. Dieser entzog sich Fragen der Ehre, erst recht der Humanität und ganz sicher auch einem Gewissen. In Berechtigung steckte Recht, aber nicht Gerechtigkeit, philosophierte Max Heiliger. Recht hatte grundsätzlich, wer stärker war, wer sich seinen Platz erkämpfte. Oder erkämpfen ließ. Wie jene Auftraggeber des Altenheims, die eine inhumane Behandlung seitens der Heimleitung, genauer der geriatrischen Seite bemängelten, zuerst, eine bessere Behandlung forderten, dann, um Hilfe schrien, zuletzt. Sie hatten es sogar geschafft, der »Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter« eine Botschaft zukommen zu lassen. Dort berichteten sie ausführlich über die Misshandlungen, die ihnen zuteil wurden, Vernachlässigungen durch Pfleger, die zu vernachlässigen gewesen wären, gäbe es nicht die diktatorische Führungsspitze dieser weiß gewandeten und in Filzpantoffeln herumschleichenden Aufpasser. Die ältesten unter den Heimbewohnern hatten den Zweiten Weltkrieg zwar noch physisch, aber kaum bewusst erlebt, wagten den in der Öffentlichkeit und bei den Verantwortlichen indiskutablen Vergleich zu Konzentrationslagern und flüchteten sich in eine eingekerkerte Verwirrung, als Hilfe von außen, der Folterstelle, ausblieb, weil es so schlimm nicht war, wie es verlautete, nicht annähernd, weshalb sie sich ängstlich noch mehr abschotteten. Ein paar Wenige wollten sich mit einem Schutzpanzer aus Konsternierung als letztes Mittel nicht abfinden und ersannen den Plan, den Todesengel, Hilda Fritzelshues mit Wahrnamen, aus dem Weg zu räumen, in der Hoffnung, es finde sich zu ihren Lebzeiten kein adäquater Ersatz mehr.
Natürlich suchte Max Heiliger nach nur mehr als einem Motiv, dem aus Geldnöten. Er fahndete nach besagter Humanität und fand sie in der Sympathie zu diesen Leidensgenossen – das könnte ich sein – und verlangte sich das Beste ab, was er zu bieten hatte. Und das war – nicht viel, leider. Noch nicht, dachte Max. Auf dem Gebiet der Planung eines Verbrechens war er weiterhin ein Amateur, er verfügte lediglich über eine gewisse Berufserfahrung, was ihn amüsierte, weil ein Gefühl der Berufung in ihm gärte. »Der kleine Mordratgeber« lag in eindeutig gelesenem Zustand vor ihm aufgeschlagen auf dem Tisch. Zahllose selbstklebende Merkzettel ragten als Lesezeichen zwischen den Seiten heraus. Der Plan verdichtete sich. Recherche vor Ort würde unabdingbar sein. Max Heiliger wollte human, berechtigt und professionell töten. Emilie würde ihn – unwissentlich – begleiten.
Auf der Fensterbank leuchtete ein Plastikweihnachtsbaum, einen halben Meter hoch, mit kleinen gelben, grünen und roten Glühbirnen ausgestattet. Das Fenster selbst hatte Max mit grasgrün glänzendem Flitter umkränzt. Auf dem Tisch stand ein Adventskranz, aus Kunststoff, mit roten Seidenimitatbändern gegürtet, schief in Schleifen gezogen. Max Heiliger hatte sein Bestes gegeben. Oben auf dem Kranz glimmten vier noch kleinere Glühbirnen als am Weihnachtsbaum, flammengleich zuckend, ankündigend, das Christkind käme bald. Seine Frau saß ihm gegenüber. Sie hatte ihm zum Lottogewinn Fragen gestellt, freundliche und glückliche. »Dann wird das ein schönes Weihnachten?«, hatte sie gefragt.
»Ein sehr schönes«, hatte Max ihr geantwortet. Er bedauerte es, dass sie seine Dekoration nicht sehen konnte. Dafür duftete es aus dem Ofen, wo er gekaufte Plätzchen sachte aufheizte. Backen konnte er nicht, wollte jedoch die Illusion hingegen so realistisch wie irgend möglich gestalten. Dazu gehörten Weihnachtsplätzchen, die besten, die zu kaufen waren.
Emilie wusste um die Haushaltsfertigkeiten ihres Mannes genau. Jahrzehntelang hatte sie die Wohnung gehütet, eine andere noch, geräumigere als diese, ausgestattet mit einem Arbeitszimmer, wo sie die Schularbeiten in aller Ruhe korrigierte und von eigenen Kindern träumte. Der Haushalt war zügig von der Hand gegangen, da Max beruflich viel unterwegs war. Männer, die selten daheim waren, sorgten auch nicht für Dreck und Unordnung in der Wohnung. An den Wochenenden erholte sich ihr Max, rührte sich draußen auf Spaziergängen mehr als drinnen. Die Liebe fand im Bett statt, die Nahrungsaufnahme in gutbürgerlichen Lokalen, die Unterhaltung noch in Theatern und Kinos. Erzieherisch sicher, wie es ihrer Berufstätigkeit entsprang, hatte sie für eine genau dosierte Mischung aus Bildung und Unterhaltung gestimmt und bekommen. Es war eine schöne Zeit gewesen. Der Kinderwunsch kam und ging, zeitweilig eitrig brennend, abebbend in gemeinsamer Langeweile und der Ernüchterung, dass da sonst nicht mehr viel auf sie beide warte. Die Blindheit war ein Schlag ins Gesicht. Sie kam nach der Pensionierung, da man noch einmal alles hätte genießen können, was da draußen so für das Alter versprochen wurde. »Die Plätzchen«, sagte Emilie. »Sind sie schon gut?«
Max zog das Blech aus dem Ofen und drehte die Temperatur herunter. Er blies über die geöffnete Ofenklappe, damit kein Krümel das neue Küchengerät vorzeitig ruinierte. »Sind gut«, erwiderte er mit fachmännischem Unterton. All die Fernsehköche sprachen so. Das Plastikgeschirr – mit weihnachtlichen Abbildungen darauf, das hatte er ihr verschwiegen – enthielt im Set auch zwei Schüsseln, rot und grün gefärbt, mit Putten auf den Rändern. Hierauf verteilte er die Plätzchen und stellte eine Schüssel auf den Tisch, die nächste in Griffreichweite auf die Spüle.
Von Zimtgeruch und Butterduft umzingelt, knusperten sie an ihrem Gebäck, ohne zu bemerken, dass sie von unsichtbarer Seite her beobachtet wurden. Ein metallisches Klatschen auf Holz beendete die traute Zweisamkeit und die Observation aus der Tiefe des Küchenbodens. Eine Mausefalle hatte ihre Arbeit getan, das Stück Käse, als Köder dort platziert, war zerquetscht, das Genick der Maus unter dem Metallbügel ebenfalls. Das Schicksal sprang in diesem Augenblick hinzu. Das Bild, so bedeutungsschwanger, verwandelte sich, und Max bekam eine grauenhafte Idee, die so gar nicht zu der heiligen Stimmung jenes Spätnachmittags im ausgehenden Dezember passte. Eine Maus wollte Käse. Die Falle brauchte einen Köder. Max benötigte einen Köder. Er sah Emilie an, und in diesem Moment bemächtigte sich ein böser Gedanke seiner Seele – den er nicht als solchen empfand – überlagert von dem irrigen Selbstbewusstsein, alles schaffen zu können, von pervertiertem Ehrgeiz, den er tief in sich brodeln fühlte, ehedem zum letzten Mal, als er mit einer Lkw–Ladung zum Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts in die Ukraine geschickt worden war.
Jordan Ganter würde der Köder sein.
»Probier mal die anderen. Hier.« Max reichte ihr ein Plätzchen von der anderen Seite der Schüssel in die offene Handfläche.
Sie tastete eine Handbreit zu einer Tasse Kakao und tunkte das Vanillekipferl in die Flüssigkeit, während er die Maus samt Falle – Max ekelte sich – zuerst in eine gebrauchte Einkaufsplastiktüte warf und das so gefüllte Behältnis anschließend in den Abfalleimer bugsierte. Feiner weißer Zucker schwemmte zu den Seiten von Emilies Tasse weg und vermengte sich mit dem dunklen Schaum der heißen Schokolade. Kurz saugte sie den Kakao aus dem Vanillekipferl, zerbröselte dann nach einem genau festgelegten Ritual die mürbe gewordene Keksmasse mit der Zunge am Gaumen und war erst zufrieden, sobald der gelutschte Brei seine gesamten Aromen im Mund entfaltete. Dann schluckte sie alles herunter.
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