Oder ist es einfach wieder eine neue Leidenschaft, die ihn Hedwig abspenstig machte? Denn da ist, schon ein oder zwei Klassen über ihm, eine Schülerin namens Isolde, so schön und hold wie ihr Name: holde Isolde. Winters sieht er sie auf einem gefrorenen Weiher Schlittschuh laufen, und wie sie frisch und unbeschwert lacht und ihr schwarzes Haar im Winde fliegt, und grüblerisch zerbricht er sich den Kopf, wie er sich ihr nähern könnte. Es ist wie mit Sara in der Synagoge oder Gerti in seinem Garten.
Da ist er schon im dritten oder vierten Schuljahr und liest den Don Quijote . Oder ist es ein amerikanisches Abenteuerbuch, in dem liebenswerte junge Frauen von wilden Indianern entführt, an den Marterpfahl gebunden und erst durch unerschrockene Wildtöter gerettet werden? Er ist so begeistert von den Geschichten, dass er sie abends vor dem Einschlafen für sich persönlich weiterträumt. Er selber wird Teil der abenteuerlichen Unternehmungen und ruht nicht eher, als bis seine Herzensdame befreit ist und ihm, ihrem Retter, dankbar und hingebungsvoll an die Brust sinkt. Dieses Ende der Geschichte zögert er immer so lang wie möglich hinaus und schläft, die zerknüllte Bettdecke zwischen den Beinen, nicht eher ein, als bis er am verdickten Kopfende den Kuss ihrer Hingabe spürt. Es ist ein Glücksgefühl in seinem Kopf, wie ein wohliges Prickeln, das ihn etwas erschöpft, müde macht und in einer Art erhitzter Schläfrigkeit in Schlaf sinken lässt. Es ist eine Form kindlicher sexueller Selbstbefriedigung, kein Zweifel.
Das ist nicht weiter wunderlich, der junge Harry macht da keine Ausnahme. Die psychoanalytische Lehrmeinung hält die Allgemeinheit der Onanie, namentlich im Kindesalter, für selbstverständlich. Laut der freudianischen Sexualtheorie ist die Kinderonanie allgegenwärtig: Man könne „schwerlich die Absicht der Natur verkennen, durch die Säuglingsonanie, der kaum ein Individuum entgeht, das künftige Primat dieser erogenen Zone für die Geschlechtstätigkeit festzulegen.“ Die Ubiquität der Säuglings- und Kinderonanie, so Eduard Hitschmann, das Vorkommen der Onanie bei Tieren, infolge gezwungener Abstinenz, ferner auch bei Naturvölkern, musste von derselben das Odium des Krankhaften nehmen. – Erfahrungsgemäß , so Wilhelm Stekel, onanieren alle Kinder. Ich meine die Kinderonanie in den ersten Lebensjahren . Und er berichtet von einer Frau, einer Arztgattin, die seit dem vierten Lebensjahr fast täglich onanierte, und auch in der Ehe onanieren musste. Sie konnte erst einschlafen, nachdem sie einen onanistischen Akt vollzog. – Ich konnte , so Josef K. Friedjung, in etwa zwei Jahren 35 Fälle von Kinderonanie notieren. Aus der Methode der Sammlung ergibt sich ohne weiteres, dass es sich dabei um eine Minimalzahl handelt . Et cetera.
An diesen Indianerabenteuern will er seine schwarzhaarige Flamme teilhaben lassen. Welch innige Seelengemeinschaft wäre es zwischen ihm und Isolde, wenn sie dieselben Geschichten läse und die gleiche Glut der Begeisterung fühlte wie er? So hat er den dickleibigen Band mit seinem bunten Einband tagelang in der Schultasche auf dem Gepäckträger seiner Laufmaschine mit dabei und will sie an der Stelle vor der Kirche abpassen, wo sie auf dem Schulweg vorbeikommen muss. Etliche Tage lang wartet er so. Sie kommt auch wohl manchmal vorbei, doch dann, vielleicht, weil sie in Begleitung einer Freundin ist, hat er nicht den Mut, sie anzusprechen. Das Herz fällt ihm in die Hose. Es kommt ihm doch etwas unpassend, exotisch und nachgerade irreal vor, ihr akkurat ein Stück Literatur leihen zu wollen. Vielleicht ist sie ja gar nicht am Lesen interessiert. Vielleicht ist sie ja gar keine so passionierte Leserin wie er selbst.
Oder liegt es daran, dass sie schon etwas älter ist als er, auch sichtlich größer, so dass sie wohl kaum was von ihm haben will? Oder ist es, weil er sie zusammen mit einem jungen Burschen namens Hans aus der Oberklasse auf dem spiegelglatt gefrorenen Weiher dahinschlittern sah, – einem hübschen jungen Burschen mit schwarzen Locken wie sie, das muss man ihm lassen, der sportlich und virtuos auf seinen silbernen Kufen fuhr und sie dabei sogar an der Hand hielt? Er selber könnte niemals so gekonnt mit ihr schlittern, so sportlich ist er nicht, auch ist er noch nicht so alt, und auch nicht so hübsch und schwarzgelockt wie der Hans. Sie würde ihn höchstens befremdet anschauen, wenn er seinen Wälzer auspackt, und ihn vielleicht sogar auslachen. Soll er das vor den anderen Schülerinnen riskieren? Wie, wenn seine Verflossene, Hedwig, davon erfährt?
Vielleicht findet er deshalb nicht den Mut und spürt den Stachel eifersüchtig entherzten Zweifels. Zweifel ist aber nicht weit von Ver zweiflung. Mehrere Male fährt er mit dem Buch auf dem Träger unverrichteterdinge wieder nach Hause, und nach einiger Zeit gibt er sein Vorhaben gänzlich auf. Im Gedächtnis bleibt es ihm wie eine bittere Niederlage, eine sentimentale Katastrophe – die Unmöglichkeit, von Isolde geliebt zu werden.
Spätestens da ist es, dass er sich seiner körperlichen Statur und der Bedeutung der Körperlichkeit in der Liebe bewusst wird. Isolde ist größer und älter als er, und das allein kann, wie er fühlt, ihre Liebe hintertreiben und boykottieren. Ist das aber mit Isolde so, dann ebenso auch bei anderen Frauen. Der junge Harry ist eher von kleiner, kaum mittelgroßer Statur, und die Hälfte mindestens aller gleichaltrigen Mädchen ist größer als er. Allein das schon bedeutet, die Hälfte aller Frauen auf der Welt kommt für seine Liebe nicht in Betracht. Bei fünfzig Prozent aller Frauen hat er von Hause aus keine Chance. Für einen normalen Jungen ist das kein Problem; er wird sich einfach eine Partnerin suchen, die von der Statur her zu ihm passt. Hedwig war noch kleiner als er, da war es kein Problem. Jetzt aber ist es doch ein Problem, denn er ist kein normaler Junge: Er ist ein Erotiker, wie er im Buche steht, und liebt mehr als eine Frau. Der Liebe für schöne Frauen blieb mein Leben gewidmet , bekennt er in seinen Memoiren , ,Frauen' in der Mehrzahl; und da ist es bereits eine Tragödie an und für sich, wenn ihm die Hälfte aller Frauen schon von Vornherein seiner Körpergröße wegen unerreichbar bleibt.
Was kann ein Erdensohn mehr verlangen von einem Weibe? schreibt er einmal an Maximilian Schottky. Ist ein solches nicht ein wandelndes Paradies? Ich wünsche Ihnen Glück zum Besitze desselben. Ich Ritter von der traurigen Gestalt werde nie eines solchen teilhaftig werden können, und, wie die Weiber im Koran, muss ich mich mit dem bloßen Anblick des Paradieses begnügen. Ja, ein Paradies! denn seine Frauenliebe gilt ja nicht nur ihrem Geschlecht, sie gilt ihrem ganzen weiblichen Wesen mit allen Fasern ihres Körpers und ihrer Seele und ihres Seins überhaupt, dieser geschenkten Welt , so dass sein glühendes Verlangen nach Besitz auch nur dadurch zu stillen wäre, dass er ihren Leib und ihre Seele in jeder Faser seines Daseins besitzen und in sich aufnehmen könnte.
Manchmal begegnet es ihm, dass er auf der Straße eine ganze Schulklasse sechzehn-, siebzehnjähriger Mädchen, solche und solche, darunter ausnehmend hübsche, modisch entblößte, vorüberwandern sieht. Frage: Was empfindet der junge Harry dabei? Als ich ein Knabe war, fühlte ich immer eine brennende Sehnsucht, wenn schöngebackene Torten, wovon ich nichts bekommen sollte, duftig-offen bei mir vorübergetragen wurden; späterhin stachelte mich dasselbe Gefühl, wenn ich modisch entblößte, schöne Damen vorbeispazieren sah ! – Apfeltörtchen waren nämlich damals meine Passion – jetzt ist es Liebe, Wahrheit, Freiheit und Krebssuppe.
Außerdem wählen sogar die kleineren Frauen oft größere Männer, vielleicht des Ausgleichs oder eines instinktiv irrationalen Schutzbedürfnisses wegen. Die schwachen Frauen mit ihrem Schutzbedürfnis lieben überhaupt große, gutaussehende, starke Männer. Er kann sie gut verstehen, diese Frauen, denn er selber liebt große, starke, gutaussehende Männer. Vielleicht sind es die weiblichen Hormone in ihm, warum auch er in große, starke, gutaussehende Männer verliebt ist. Er liebt die mythologischen Bücher, in denen sie abgebildet sind – die klassichen Helden Herkules, Theseus, Achilles, Odysseus, Äneas, Simson ... In seinen hochmögenden Träumen – in einer Überkompensation seiner kleinen Statur – identifiziert er sich auf Gedeih und Verderb mit ihnen.
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