Das ist seine erste Begegnung mit dem unverstellten weiblichen Geschlecht. Irgendwie hat er das Gefühl des Abenteuerlichen und Verruchten, so dass er seinen Nachbarn und seine Frau, die solche Ungeheuerlichkeiten im Schuppen haben, von da an mit einem gewissen Ressentiment betrachtet. Er fragt sich, ob er das Journal klauen und mit sich nehmen soll, damit er ab und zu einen Blick hinein werfen kann, weiß aber nicht, wo er es zu Hause so verstecken könnte, dass Betty es nicht findet. Also entschließt er sich, es in der Hütte zu lassen. Er kann sich hier ja vielleicht noch öfter einsperren lassen oder sie manchmal auch, wenn keiner es sieht, freiwillig aufsuchen. Er vergisst aber nicht, die Hefte noch gründlicher hinterm Holz zu verstecken, so, dass nur er sie noch finden kann.
Junge Mädchen sind, wenn auch die hervorstechendste, doch nicht seine einzige Leidenschaft. Mit vier oder fünf ist er verliebt in die prächtigen Sonnenblumen. Eine wahre Passion. Er selber hat nur ein kleineres Exemplar in seinem Garten stehen, das er hingebungsvoll pflegt und behütet. Von seinen Ausflügen aufs Land her weiß er, dass die Bauern ihre Felder mit tierischem Mist und Gülle düngen, was den Pflanzen gefällt, so dass sie wachsen und gedeihen. Deswegen pinkelt er regelmäßig täglich auf die Stelle, wo der Stängel aus dem Boden kommt, bis er in einer kleinen gelblichen Lache steht. So düngt er hingebungsvoll seine Pflanze.
Aber das Miststück scheint seine Fürsorge nicht zu schätzen, denn nach einiger Zeit sieht sie kränklich aus, siecht dahin, lässt immer mehr die Blätter hängen, wird schlapp, hinfällig, ist schließlich nicht mehr zu retten und geht jämmerlich ein. Er muss die Reste entsorgen und kann nicht verstehen, was er im Unterschied zu den Bauern auf dem Land falsch gemacht hat.
In Katharinens Garten aber steht eine Sonnenblume, die ein Prachtexemplar ihrer Art ist, schon reif, mit prächtigem, schwer nach unten hängendem Kopf und pechkohlenschwarz opalisierenden Kernen. Er weiß wohl, es ist Unrecht und eine Untat, kann aber der Versuchung nicht widerstehen. Dem Genie sind Dinge erlaubt, die den gewöhnlichen Sündern verboten sind: Eines Nachts, als ringsum alles im Schlaf liegt – die Mitternacht zieht näher schon, in stummer Ruh liegt Babylon –, steigt er mit einem kleinen Messer in der Hand aus dem Fenster seines ebenerdigen Schlafgemachs, schleicht über das Trottoir der nächtlich verwaist liegenden Bolkerstraße in Katharinens Garten, säbelt in meuchlerischer Aktion den schweren Kopf am schlanken Halse ab und schafft ihn heimlich schleichend auf den Speicher seines Hauses. Niemand hat etwas gemerkt. So hält er sich für sein eigenes verpisstes Exemplar schadlos.
Natürlich erregt der kopflose Stengel anderntags unliebsames Aufsehen. Besonders die benachbarten Mädchen beäugen Harry skeptisch. Gut möglich, dass man, da man seine heliotrope Leidenschaft kennt, ihn allgemein der Untat verdächtigt, doch ist ihm schlechterdings nichts nachzuweisen, nicht auf die Schliche zu kommen. Niemand käme auf die Idee, deswegen mit einem Durchsuchungsbefehl auf seinem Speicher nachzuforschen. Da sitzt er nämlich einsam und isoliert und berauscht sich an dem öligen Duft der jetfarbenen Kerne wie Dracula an Minas Halsschlagader.
Er hat aber ein störendes schlechtes Gewissen dabei und muss erfahren, dass ein Glück, das wir der Lüge verdanken, kein wahres Glück ist und man solcher Freuden, die man sich unrechtmäßig verschafft, nicht wahrhaft froh werden kann. Von Anfang an hat er, wie bei seinen Gedanken an die nackte Gerti, ein kriminelles Gefühl. Es ist der rätselhafte Gegensatz zu den anderen, den Gewöhnlichen, den Ordentlichen, der ihn umgebenden bürgerlichen Wohlanständigkeit, der aus seiner tiefen Leidenschaftlichkeit kommt.
Mädchen und Blumen sind nicht sein einziges Faible. In seinem Garten in einer rechtwinkligen Mauerecke steht, in Nähe der Abfalltonne, eine windschiefe kleine Hütte, die er sich aus herumliegenden Brettern zusammengezimmert hat und in deren hautengen Wänden er sich zu Hause und geborgen wie im Mutterschoß fühlt. Offenbar ist es die Folge seiner inständigen und eingezogenen Natur, was ihn dort in vorzüglicher Vereinzelung sitzen und seinen einsamen Werkeleien und Eigenbröteleien nachgehen lässt, indes er von der Hütte so eng umschlossen wird wie eine Auster von ihrer Schale. Höchstens dass er sich vorstellt, wie es wäre, wenn Gerti einmal zu ihm in die Hütte käme ...
Eines Tages lassen Betty und Samson, während sie mit ihm ausgehen, den alten Verschlag, um ihm eine Überraschung zu machen, von einem berufsmäßigen Zimmerer durch eine neue schmucke Hütte aus neuen Brettern ersetzen. Das tadellose Holz riecht noch so frisch, wie wenn es geradewegs aus dem Sägewerk käme. Sein alter Verschlag ist in den Sperrmüll gewandert ... Sie haben ihm damit aber keinen Gefallen getan. Er trauert seiner alten Hütte nach wie einer verlorenen Liebe und kann sich zu der ihm unterschobenen neuen nicht bequemen. Sein eigenhändiges Werk ist zerstört und zu Ausschuss geworden. Der Aufenthalt unter dem glänzenden Wellblechdach ist ihm vergällt, und er erfährt, dass Dinge, an denen unser Herzblut hängt, nicht so einfach zu substituieren sind. Den Eltern kann er das nicht erklären. Sein leidenschaftliches Empfinden ist kompromisslos und radikal.
Seine Passionen sind nicht einmal ungefährlich. Mit sieben erklettert er die höchsten Kastanienbäume der nachbarlichen Gärten und Parks und schaukelt halsbrecherisch in den nach oben hin immer dünner werdenden Ästen. Am Ufer des Rheins flicht er sich kleine Weidenhäuschen und verbringt, wie vormals in seiner Hütte, allein ganze Nachmittage darin.
Berüchtigt ist seine Rauflust. Vielleicht ist es ein Überausgleich seiner kleinen Statur, die er durch die Demonstration von Kraft kompensieren will. Einmal verdrischt er auf offener Bolkerstraße einen gleichaltrigen Raufbold, bis der aus der Nase blutet, und wird vom Direktor der Schule zur Rede gestellt. Er weiß nicht, wie sich entschuldigen, hat aber einen Trumpf in der Hand. Die Tochter des Direktors, Lotte, hat letzthin öffentlich behauptet, dass er sie unsittlich angefasst habe, was aber, wie leicht zu beweisen, gar nicht stimmt. Das bringt er vor ihrem Vater zur Sprache. Der scheint davon so unangenehm berührt, dass er ihn ungestraft wieder laufen lässt. Die erfundene Schandtat Lottens schützt ihn vor der Strafe für eine solche, die er tatsächlich beging.
Ein junger Held Telemach, hat er eine Leidenschaft für Pfeil und Bogen, die er sich selber aus den Büschen im Garten schnitzt. Dazu verdrahtet er, damit sie besser im Ziel steckenbleiben, die Spitze seiner Pfeile mit echten eisernen Nägeln. Einmal, als er einen Pfeil senkrecht in die Luft abgeschickt hat und selber in Deckung ging, trifft es sich so unglücklich, dass das pfeilgerade zurückkehrende Geschoss direkt im Rücken eines älteren Freundes, Meinrads, landet, der sich im Gras gerade über etwas nach unten bückt, – und zwar so, dass es genau an der Stelle steckenbleibt, wo sich Meinrads Rückgrat mit dem Rückenmark befindet. Der Freund zieht sich, vor Schmerz ächzend, den Pfeil mit dem Nagel heraus, hält aber im Folgenden, genauso wie der beistehende Wiggerl, so dicht, dass weder Betty noch Samson etwas davon erfahren. So kommt er glimpflich davon; aber wenig mehr, und er würde wegen Totschlags verurteilt.
Ein anderer Kumpel hat zum Geburtstag eine brandneue Laufmaschine bekommen. Auch Harry, selber ein passionierter Läufer, darf sie ausprobieren. Er dreht eine Runde in der Bolkerstraße, muss aber einer entgegenkommenden Droschke ausweichen und steuert auf einen parkenden Fiaker zu. Er kann nicht rechtzeitig bremsen und prallt direkt auf den Wagen. Die vordere Gabel des Rades ist verbogen. Er hat das funkelnagelneue Laufrad des Freundes praktisch am ersten Tag schrottreif gefahren. Zum Glück bleibt auch das seinen Eltern verheimlicht. Er opfert seine gesamte Münzsammlung für den Mechaniker, der die Gabel notdürftig wieder hinbiegt, ist sich persönlich aber, wenn er sich an die Stelle des Besitzers versetzt, nur allzu bewusst, dass der moralisch-ästhetische Schaden, den er bei ihm angerichtet hat, damit nicht wiedergutzumachen ist.
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