1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Der Ödipuskonflikt der Psychoanalyse ist aber, wie die Psychoanalyse selbst, ziemlich umstritten. Eher aber lehnten wir das Konzept ab, als Harrys Gefühle zu verfälschen. Von Samson hat er da kaum etwas zu befürchten. Sein Vater steht immer sehr früh auf und begibt sich an seine Geschäfte, im Winter wie im Sommer, und er findet ihn gewöhnlich schon am Schreibtisch, wo er ihm ohne aufzublicken die Hand hinreicht zum Kusse. Eine schöne, feingeschnittene, vornehme Hand, die er stets mit Mandelkleie wäscht. Viel später noch sieht sie der Sohn vor sich, sieht noch jedes blaue Äderchen, das diese blendend weiße Marmorhand durchrieselt, und ihm ist, als steige ihm prickelnd der Mandelduft in die Nase, und das Auge wird feucht. Zuweilen bleibt es nicht bloß beim Handkuss, und der Vater nimmt ihn zwischen die Knie und küsst ihn auf die Stirn.
Eines Morgens umarmt er ihn mit ganz ungewöhnlicher Zärtlichkeit und sagt: „Ich habe diese Nacht etwas Schönes von dir geträumt und bin sehr zufrieden mit dir, mein lieber Harry.“ Während dieser naiven Worte zieht ein Lächeln um seine Lippen, welches zu sagen scheint: mag der Harry sich in Wirklichkeit noch so unartig aufführen, ich werde dennoch, um ihn ungetrübt zu lieben, immer etwas Schönes von ihm träumen.
Eine grenzenlose Lebenslust ist ein Hauptzug im Charakter seines Vaters, er ist genusssüchtig, frohsinnig, rosenlaunig. In seinem Gemüt ist ständig Kirmes, und wenn auch manchmal die Tanzmusik nicht sehr rauschend, so werden doch immer die Violinen gestimmt. Immer himmelblaue Heiterkeit und Fanfaren des Leichtsinns. Eine Sorglosigkeit, die des vorigen Tages vergisst und nie an den kommenden Morgen denkt.
Dieses Naturell steht im wunderlichsten Widerspruch zu der Gravität, die über sein strengruhiges Antlitz verbreitet ist und sich in der Haltung und jeder Bewegung des Körpers kundgibt. Wer ihn nicht kennt und zum ersten Mal diese ernsthafte, gepuderte Gestalt und diese wichtige Miene sieht, könnte gewiss glauben, einen der sieben Weisen Griechenlands vor sich zu erblicken. Aber bei näherer Bekanntschaft merkt man wohl, dass er weder ein Thales noch ein Lampsakus ist, der über kosmogonische Probleme grübelt. Die Gravität ist zwar nicht erborgt, erinnert aber doch an jene antiken Basreliefs, wo ein heiteres Kind sich eine große tragische Maske vors Antlitz hält.
Der kleine Harry ist ein sehr zarter, smarter Junge. Mit vier erregt ein bestimmtes Detail seine Aufmerksamkeit: Er kommt eigens zum Schreibtisch seines Vaters und fragt ihn, ob es wahr sei, dass alle Menschen sterben müssen? Samson ist perplex, um Antwort verlegen, überlegt einen Augenblick, ob er seinem vierjährigen Sprössling schon eine Wahrheit wie diese zumuten soll, darf, dann entschließt er sich um der Wahrheit willen zu einer bejahenden Antwort. Da bricht der kleine Harry vor ihm spontan in so bitterliche Tänen aus, dass der Vater seine Ehrlichkeit fast wieder bereut und große Mühe hat, die seinigen zurückzuhalten.
Jeden Sabbat besucht er den jüdischen Gottesdienst in der Synagoge in der Kasernenstraße. Die Jüdische Gemeinde Düsseldorfs hat nicht mehr als um die 300 Seelen. Harry darf ihn begleiten, während Betty lieber zu Hause bleibt. Betty hat ein so eigenes persönliches und gleichsam intimes Verhältnis zu Gott, dass sie dazu keines offiziell angestellten Zwischenträgers bedarf. Ein Muster gottgefälligen Wandels ist der örtliche Rabbiner, genannt Rabbi Abraham, der lange in Spanien gewesen, ein noch jugendlicher Mann, der aber weit und breit wegen seiner Gelahrtheit berühmt ist . Er ist geboren in dieser Stadt, und sein Vater, der hier ebenfalls Rabbiner gewesen, hat ihm in seinem letzten Willen befohlen, sich demselben Amt zu widmen und Düsseldorf nicht zu verlassen. Dieser Befehl und ein Schrank mit seltenen Büchern ist alles, was sein Vater, der bloß in Armut und Schriftgelahrtheit lebte, ihm hinterließ. Dennoch ist Rabbi Abraham ein sehr reicher Mann; verheiratet mit der einzigen Tochter seines verstorbenen Vaterbruders, welcher den Juwelenhandel getrieben, erbte er dessen große Reichtümer. Einige Fuchsbärte in der Gemeinde deuten darauf hin, als wenn der Rabbi eben des Geldes wegen seine Frau geheiratet habe. Aber sämtliche Weiber widersprechen und wissen alte Geschichten zu erzählen: wie der Rabbi, schon vor seiner Reise nach Spanien, verliebt gewesen in Sara – man heißt sie immer die schöne Sara –, und wie Sara sieben Jahre warten musste, bis der Rabbi aus Spanien zurückkehrte, indem er sie gegen den Willen ihres Vaters und selbst gegen ihre eigne Zustimmung durch den Trauring geheiratet hat.
Jedweder Jude nämlich kann ein jüdisches Mädchen zu seinem rechtmäßigen Eheweib machen, wenn es ihm gelingt, ihr einen Ring an den Finger zu stecken und dabei die Worte zu sprechen: „Ich nehme dich zu meinem Weibe nach den Sitten von Moses und Israel!“ Schon als Kinder haben sie kindisch miteinander in der Lauberhütte gespielt, sich dort an den bunten Tapeten, Blumen, Spiegeln und vergoldeten Äpfeln ergötzt, während der kleine Abraham immer zärtlicher mit ihr koste, bis er allmählich größer und mürrisch wurde, und endlich ganz groß und ganz mürrisch … Und endlich sitzt sie zu Hause allein in ihrer Kammer eines Samstags abend, der Mond scheint hell durchs Fenster, und die Tür fliegt auf, und hastig stürmt herein ihr Vetter Abraham, in Reisekleidern und blass wie der Tod, und er greift ihre Hand, steckt einen goldnen Ring an ihren Finger und spricht feierlich: „Ich nehme dich hiermit zu meinem Weibe, nach den Sitten von Moses und Israel!“ „Jetzt aber“ – setzt er bebend hinzu – „jetzt muss ich fort nach Spanien. Lebe wohl, sieben Jahre sollst du auf mich warten!“ Und er stürzt fort, und weinend erzählt die schöne Sara das alles ihrem Vater … Der tobt und wütet: „Schneid ab dein Haar, denn du bist ein verheiratetes Weib!“ – und er will dem Abraham nachreiten, um einen Scheidebrief von ihm zu erzwingen; – aber der ist schon über alle Berge, der Vater kehrt schweigend nach Haus zurück, und wie die schöne Sara ihm die Reitstiefel ausziehen hilft und besänftigend äußert, dass der Abraham nach sieben Jahren zurückkehre, da flucht der Vater: „Sieben Jahr sollt ihr betteln gehen!“, und bald stirbt er. Harry weiß nicht, hat er die Geschichte wirklich einmal so gehört, oder hat sie ihm selbst so eines Nachts geträumt.
Bei der Erwähnung Spaniens pflegen die Fuchsbärte auf eine ganz eigene Weise zu lächeln; und das geschieht wohl wegen eines dunkeln Gerüchts, dass Rabbi Abraham auf der hohen Schule zu Toledo zwar emsig genug das Studium des göttlichen Gesetzes getrieben, aber auch christliche Gebräuche nachgeahmt und freigeistige Denkungsart eingesogen habe, gleich jenen spanischen Juden, die dort auf einer außerordentlichen Höhe der Bildung stehen. Im Innern ihrer Seele aber glauben jene Fuchsbärte sehr wenig an die Wahrheit des angedeuteten Gerüchts. Denn überaus rein, fromm und ernst war und ist seit seiner Rückkehr aus Spanien die Lebensweise des Rabbi, die kleinlichsten Glaubensgebräuche übt er mit ängstlicher Gewissenhaftigkeit, alle Montag und Donnerstag pflegt er zu fasten, nur am Sabbat oder anderen Feiertagen genießt er Fleisch und Wein, sein Tag verfließt in Gebet und Studium, des Tages erklärt er das göttliche Gesetz im Kreise der Schüler, die der Ruhm seines Namens angezogen, und des Nachts betrachtet er die Sterne des Himmels oder die Augen der schönen Sara …
Wehmütig heiter, ernsthaft spielend und märchenhaft geheimnisvoll ist der Charakter dieser Feiern, und ihr herkömmlich singender Ton klingt so schauervoll innig, so mütterlich einlullend, und zugleich so hastig aufweckend, dass selbst diejenigen Juden, die längst von dem Glauben ihrer Väter abgefallen und fremden Freuden und Ehren nachgejagt sind, im tiefsten Herzen erschüttert werden, wenn ihnen die alten, wohlbekannten Paschaklänge ins Ohr dringen. Die Frauen sitzen oben in der Abteilung der Weiber, sitzen hier schwatzend nebeneinander oder stehen aufrecht, inbrünstig betend; sitzen in ihren wunderlich glitzernden Kleidern von lombardischen Stoffen, die nicht selten von Samson geliefert wurden, tragen um Haupt und Hals ihr Gold- und Perlengeschmeide; und die silberne Sabbatlampe gießt ihr festlichstes Licht über die andächtig vergnügten Gesichter der Alten und Jungen.
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