Etwas hindert ihn aber daran, Gerti sein Verlangen offen zu sagen und die Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Er weiß, er würde eine Abfuhr bekommen. Sie würde ihn nur befremdet anschauen oder auslachen. Eine Art moralisches Verbot liegt in der Luft. Er spürt, dergleichen geht nicht auf Erden. Es herrscht ein unausgesprochenes Tabu. Kleine Jungs und Mädchen gehen nicht miteinander ins Bett. Er kann die Liebe, die Betty ihm gibt, nicht auch von fremden Frauen erwarten. Die Liebe unterliegt strenger Reglementierung. Die Welt wird nicht von der freien Liebe regiert, sondern von kalten äußeren Gesetzen, denen man sich fügen und unterwerfen muss.
Das ist seine erste Erfahrung mit der Liebe in der Außenwelt, und er spürt es wie einen riesigen Schatten zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Subjekt und Objekt, Wollen und Können, einen Riss, einen Stich, einen Stachel, wie ein unvermeidliches Verhängnis. Die Vorstellung einer freien, ungehemmten, nicht restriktiven Liebe in ihm zerbricht. Ist an unserer Seelenarbeit, fragt Freud, eine Hauptabsicht zu erkennen? In erster Annäherung laute die Antwort, diese Absicht gilt der Lustgewinnung. Unsere gesamte Seelentätigkeit scheint darauf gerichtet, Lust zu erwerben und Unlust zu vermeiden, was automatisch durch das Lustprinzip reguliert wird. Dem widerstreite aber das so genannte Realitätsprinzip , sobald das Ich es als unvermeidlich erfährt, auf unmittelbare Befriedigung zu verzichten, den Lustgewinn aufzuschieben, Unlust zu ertragen und bestimmte Lustquellen überhaupt aufzugeben. Das so erzogene Ich ist ,verständig' geworden, es lässt sich nicht mehr vom Lustprinzip beherrschen, sondern folgt hinfort dem Realitätsprinzip, das im Grunde auch Lust erzielen will, aber durch die Rücksicht auf die Realität gesicherte, wenn auch aufgeschobene und verringerte Lust.
So leidet schon der junge Harry daran, dass er bestimmte Lustquellen nicht ausschöpfen kann, darf. Was ihm um so schwerer fällt, je größer die Lust ist, die er am Weibe doch hat: Jedes Weib ist mir eine geschenkte Welt, ich schwelge in den Melodien ihres Antlitzes, und mit einem einzigen Blick meines Auges kann ich mehr genießen als andere mit ihren sämtlichen Gliedmaßen zeit ihres Lebens. Das ist schon bei seinem Umgang mit kleinen Mädchen so.
Er sieht die anderen Jungs seines Alters und fragt sich, ob es ihnen ebenso geht? Entweder sie sind braver, fügsamer als er, oder sie empfinden gar nicht dieselbe zärtliche Glut, diese sehrende Sehnsucht. Fast verachtet er sie deswegen und fühlt sich ihnen so überlegen wie einer, der musikalisch ist, gegenüber einem, der kein Gehör dafür hat. Schon mit vier, fünf fühlt er einen so leidenschaftlichen Liebesdrang, wie sie es vielleicht niemals würden. Das gibt ihm das Gefühl der Überlegenheit über sie, wie wenn er geistig anders organisiert sei und mehr Tiefe habe als andere Menschen : eine Tiefe, die aus der Sinnlichkeit kommt. Er fühlt es nur, er kann es sich nicht erklären und wird sich bloß einer gewissen Überheblichkeit bewusst: als wäre sein mächtiges Liebesverlangen eine Fähigkeit des Geistes und der Seele, die dasselbe Anrecht auf Andacht und Bewunderung habe wie das Genie in jeder anderen Fähigkeit des Menschlichen auch.
Als er wieder einmal im Hühnerwinkel eingesperrt werden soll und Samson nicht gleich den Schüssel dazu findet, landet er stattdessen im Holzschuppen des Nachbarn, der an ihren Garten grenzt. Es ist ja sowieso, statt so recht ernst gemeint, eher ein abenteuerliches Einsperrspiel, und der Nachbar macht gutmütig mit. Diesmal können sie aber nicht ahnen, ob, und wenn ja, welchen Gefallen sie damit dem kleinen Harry tun. Tatsächlich ist es diesmal noch ein abenteuerlicheres Erlebnis als sonst. In einer Ecke nämlich des vernachlässigten Schuppens, hinter einem Haufen aufgestapelter Holzscheite, entdeckt er ein oder zwei Ausgaben des illustrierten vierteljährlichen Journals eines so genannten privaten Vereins für Freikörperkultur , die dort sei's absichtlich entsorgt, sei's versehentlich vergessen worden sind. Ob er nun bereits lesen kann oder nicht, – schauen kann er auf jeden Fall. Und da staunt er nicht schlecht: Das Journal enthält viele gezeichnete Illustrationen von lauter sich nackt am Strand tummelnden Menschen, die teils in Gruppen versammelt sind, sich sportlichen Aktivitäten widmen oder teils einzeln in allen möglichen Stellungen im Sand liegen.
Zuerst ist Harry nicht wenig schockiert, da er die Leute aus seiner Umgebung bisher immer nur anständig angezogen und in hochgeschlossener Kleidung daherkommen sieht. Auch im Sommerbad am Düsselstrand noch haben sie immer zumindest mehr oder minder dezente Badebekleidung an. Auf diesen Bildern hier aber erscheinen sie so nackt wie Adam und Eva im Paradies aus den alttestamentarischen Abbildungen. Genau genommen, erscheinen sie eigentlich sogar noch viel nackter, da Adam und Eva zumindest immer ein Feigenblatt vors Geschlecht geklebt haben, das hier aber vollständig fehlt. Der Nachbar und seine Frau oder sonst wer aus der näheren Umgebung hat offenbar dies als Liebhaberei. Im 18 Jahrhundert ja schon, steht da zu lesen, propagierte und praktizierte der schottische Literat Lord Monboddo das Nacktbaden als Wiedererwachen der altgriechischen Nacktkultur. Literarische Erwähnung fand es in Georg Christoph Lichtenbergs Das Luftbad : „Ja wer weiß, ob nicht ... der tiefe Ausschnitt am Busen, und der hohe Abschnitt am Unterrock sich endlich einander auf halbem Wege begegnen und zum bloßen Feigenblatt unserer ersten Eltern zusammenschmelzen werden. So führt auch diese Theorie, so wie die neueste Politik auf eine baldige Wiederkehr vom paradiesischen Stand der Unschuld und Gleichheit.“
Ob der kleine Harry nun aber schon lesen kann oder nicht, der bloße Anblick der nackten Leiber und Busen bleibt jedenfalls indiskutabel. Zum erstenmal sieht er Menschen, die es sei's nicht für notwendig halten, am Badestrand ihre Scham zu bedecken, sei's sogar noch besonderen Gefallen daran finden, es nicht zu tun, und noch dazu dabei ganz unbefangen wirken, so als wäre es das Natürlichste von der Welt. Nicht dass der – sichtlich begabte – Illustrator es auf besondere geschlechtliche Anzüglichkeiten abgesehen hätte – er stellt alles als ganz naturgetreu unverfänglich hin –, doch sind bestimmte Wirkungen eben gar nicht zu umgehen. Das heißt, im Großen und Ganzen sind die Personen, lauter stattliche und angenehm anzusehende Körper, athletisch die Männer, mit weiblicher Sanduhrform die Frauen, doch etwas schöner und ansehnlicher ausgefallen, als sie es – Betty und die schöne Sara ausgenommen – in Wirklichkeit vielleicht sind. Denn die eine oder andere der Frauen, und nicht nur die Frauen, wirken dabei augesprochen schön und attraktiv, so attraktiv und verführerisch, dass Harry es als ein warmes Kribbeln im Blut spürt. Sagen wir es so: Nicht dass der Illustrator es eigens darauf abgesehen hätte, die Frauen mit einem besonderen Sex appeal auszustatten und dadurch die Sinne des Betrachters zu reizen, – er hatte aber, wo ihm einmal ein Detail besonders gut gelungen, offenbar auch nichts dagegen, es so stehen zu lassen. Immer mündet die weibliche Sanduhrform in ein buschiges Delta zwischen den Beinen, und stets sind sie in ihrem Schritt von dichtem Schamhaar bewachsen.
Von den Männern kennt er das schon, da wuchert das Haar in der Gegend als dichter Busch, und darunter hängen in unterschiedlicher Länge und Breite ihre Geschlechtsteile herab. Ganz anders dagegen bei den Damen. Da hängt gar nichts herab, da ist im Schritt eigentlich nur der dichte Busch, vom Zeichner immer in Form eines vollen schwarzen auf der Spitze stehenden Dreiecks illustriert. Und dabei bleibt es auch, von einem eigentlichen Geschlechtsteil kann da keine Rede sein. Dabei weiß Harry aber schon, die Frau hat eine Scheide, in die das männliche Teil eindringen kann. Also befindet sich dieser Eingang vermutlich irgendwo unter dem dichten Haar, vermutlich an symmetrischer Stelle, wo auch das männliche Teil entspringt. So stellt er sich die Öffnung etwa in der Mitte des schwarzen Dreiecks auf der Höhe des unterm Haarbusch verborgenen Schamhügels vor. Der Mann muss erst suchen und das Haar beiseite schieben, wenn er da eindringen will. Erst viel später erfährt er, dass die Scheide gar nicht so weit oben auf dem Hügel ist, sondern stattdessen ganz unten am Fuße des Hügels zwischen den Beinen, wie weit hin man auf den Bildern überhaupt nicht sehen kann. Jedenfalls ist der Zeichner nicht so weit gegangen, auch das noch sichtbar zu machen. Oben auf dem Hügel selber ist praktisch gar nichts, nur das Haar. Komisch, dass das Haar da wächst, wo es eigentlich gar nichts zu verstecken gibt.
Читать дальше