1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Ist diese manifeste kindliche Onanie besonders ausgeprägt, dann beweise sie, so Paul Federn, „einen starken angeborenen – in anderen Fällen eventuell durch exogene Akzidentien gesteigerten – kindlichen Sexualtrieb. Die Wahrscheinlichkeit, dass aus solch einem Kind ein sich gewöhnlich entwickelndes leicht lebendes Dutzendindividuum werden wird, ist gering.“
Nicht anders bei dem kleinen Harry. Ein solches Dutzendindividuum ist er sicherlich nicht. Seine Begabung zur Liebeslust grenzt in der Tat ans Wunderbare und übertrifft das gemeine Ausmaß bei weitem . Das postnatale Erleben des Kleinkinds im Schoß seiner Mutter vermittelt ihm das Gefühl des Geschlechts: für alles, was Betty hat und der männliche Teil seiner Familie nicht. Die Idee des Weiblichen , eine innere Symbolisierung, entsteht in ihm und prägt ihn mit einem plastischen Inbild des Ewigweiblichen .
Biologisch primär ist das natürliche, angeborene Verlangen nach Sex. Befriedigt wird dieses Verlangen zuerst an der Brust der Mutter, wodurch sich unsere Lust und ihre Befriedigung an die Vorstellung des ,Weiblichen' knüpft. Das Kleinkind liegt zuerst an der Brust seiner Mutter, und all sein Wohl und Weh, seine Liebe und Lust wird auf sie geprägt; so bleibt es die ganze Kindheit hindurch. Dadurch knüpft sich einzelmenschlich-individuell unsere Sinnlichkeit an ,das Weib' – das äußere Objekt, das zur Erfahrung sexueller Befriedigung wird. Beides zusammen: das ursprüngliche Verlangen und seine Befriedigung, erzeugt durch die alchemische Wirkung der Phantasie das von der Verhaltensforschung so genannte ,Weibchenschema'.
Die frühe Erfahrung schafft ein symbolisch repräsentiertes Modell einer vertrauten Beziehung, das im weiteren Lebenslauf benutzt und teilweise auch modifiziert, jedoch in seiner Grundstruktur frühkindlich angelegt wird und erhalten bleibt … Dabei erfolgt die Prägung nicht nur auf die äußeren Geschlechtsmerkmale; sie greift aus und erfasst das ganze Sein und Wesen, die Welt der Frau. Jedes Weib ist mir eine geschenkte Welt , sagt Heine.
Also hat es mit der Liebe die folgende Bewandtnis. Die Sexuallust entsteht im Gehirn in Form von Glücksmolekülen , eines psychedelischen Cocktails der Liebeslust: körpereigene Opiate, endogene Drogen, Endorphine und Adrenaline, Dopamine und Amphetamine, Testosterone und Östrogene werden frei und in der Identität von Gehirn und Seele zur Lust . Emotional ausgeglichen und ,glücklich' sind wir nur dann, wenn wir mit Glücksmolekülen beliefert werden. Diese Lust ist nachgerade unsere Lebenslust: unser Antrieb, zu leben.
Neurotransmitter und Hormone wirken über eigene Rezeptoren. Nicht nur die Konzentration der Botenstoffe, auch die Menge und Empfänglichkeit des jeweiligen Rezeptors bestimmt die Effekte von Neurotransmittern und Hormonen. So wird die Zahl und Art der Rezeptoren direkt zur Qualität der Empfindung. Variiert die Zahl und Art dieser Rezeptoren von Mensch zu Mensch, so auch unsere individuelle Sinnlichkeit. Dann gibt es beim Sex von Mensch zu Mensch die gleichen Unterschiede wie bei anderen Eigenschaften und Fähigkeiten des Körpers und Geistes – Gestalt, Größe, Kraft, Intelligenz, Begabung usw. – auch. Hat jemand eine verhältnismäßig kleine Zahl Rezeptoren, und mithin ein schwaches sexuelles Empfinden, dann nennen wir ihn einen ,kalten Fisch'. Hat einer eine ungewöhnlich große Zahl solcher Rezeptoren, und damit eine außerordentlich stark entwickelte Sexualität, dann nennen wir ihn ein ,heißes Blut'.
Stimmt das, dann ist auch nicht auszuschließen, dass Zahl und Empfindlichkeit solcher Rezeptoren und der in ihnen enthaltenen Moleküle ein extremes Ausmaß annehmen kann. Ist der Drang nach Liebe ein mächtiger Antrieb aller Menschen, – wieviel mehr dann für diese ausnehmend sinnlichen Subjekte!
Das ist der Fall Heine, dem der Nervenarzt Paul Möbius eine überstarke, ans Pathologische grenzende Sexualität bescheinigt. Bei einem Erotiker wie ihm muss die Zahl dieser Moleküle ins Astronomische gehen. Sein Gehirn wird von diesen Zellen und ihrer Rezeptivität geradezu überschüttet, durchsaugt, durchtränkt. Das ist genetisch bedingt: Ich habe dieses Elend mit mir zur Welt gebracht – schreibt er. Es lag schon mit mir in der Wiege, und wenn meine Mutter mich wiegte, so wiegte sie es mit, und wenn sie mich in den Schlaf sang, so schlief es mit mir ein, und es erwachte, sobald ich wieder die Augen aufschlug.
,Dieses Elend', sagt er; denn diese Veranlagung ist ebenso Segen wie Fluch: Er ist zur Liebe verdammt und erkoren. Denn während seine exzeptionelle Sinnlichkeit ihm Bereiche des Gefühls und der Empfindung eröffnet, die anderen ewig verschlossen bleiben, schränkt sie seine Möglichkeiten zugleich auch empfindlich ein. So selbstverständlich es war , so Alfred Schulz-Hencke, in Korrektur ehemaliger Überspitzung der Bedeutung der Sexualität diese an den Platz zu rücken, der ihr wirklich zukommt, so eindeutig muss es betont werden, dass es auch eine angeborene Hypersexualität gibt. Sie gehört zum Belastendsten, was einem Menschen vom Schicksal erbmäßig mitgegeben werden kann :
Dass ein enormes Maß gesellschaftlicher Tabus der Sexualität gilt, sei nicht zu verkennen. Dass ein anlagemäßig hypersexueller Mensch damit in den Bereich besonderer Gefährdetheit rückt, ebensowenig. Die Konfliktwahrscheinlichkeit für ihn ist außerordentlich hoch, die, gehemmt zu werden, daher auch. Daraus folgt die weitere Möglichkeit, dass solche spezielle Gehemmtheit sich ausbreitet und allgemeineren Charakter annimmt. Im Grenzfall könne eine isolierte sexuelle Gehemmtheit auf solcher Basis auch zum tragenden Element einer Gesamtstruktur werden. – Beachten wir aber, dass der Psychologe lediglich das Belastende einer solchen angeborenen Hypersexualität neutral betont, ohne irgendetwas über die Normalität oder Pathologie einer solchen Veranlagung zu befinden!
Um so belastender wird die angeborene Hypersexualität dann, wenn sie noch dazu mit einem besonders inständigen, innig-eingezogenen Charakter einhergeht, – soweit sie nicht überhaupt schon mit einem solchen partiell gleichbedeutend ist: Eine exorbitante Libido zieht eine intensive Innigkeit des Erlebens nach sich. Dadurch wird die Person auf sich selbst verwiesen. Es kommt zu subjektiver Introvertiertheit. Jeder kann seine Lust nur für sich empfinden und keinem andern vermitteln. Bei den Sinnen ist Einsamkeit. Und wieviel tiefer muss diese Einsamkeit bei einer auch noch von Hause aus so zur Introversion neigenden Natur wie Heine sein?
Die angeborene Hypersexualität gehört zum Belastendsten, was einem Menschen vom Schicksal erbmäßig mitgegeben werden kann : Das bedeutet, sein Leben wird tragisch. Es deutet auf einen von Schopenhauer so genannten tragischen Lebenslauf .
Und desto belastender ist eine solche Anlage, wenn sie von Kindheit an auch noch gefördert wird! Wenn beispielsweise die Mutter – wie offenbar viele Frauen, die ihren eigenen Liebeshunger nicht ausleben können – das Kind auch noch über die Maßen verwöhnt, verhätschelt, verzärtelt. Vielleicht ist noch dazu das Naturell des Kindes für diese Wirkungen allzu empfänglich. Dann kommen Mutter und Kind sich wechselseitig in ihrem libidinösen Anspruch so sehr entgegen, dass ihre Symbiose das gewöhnliche Maß der Natur, und mehr als für beide gut ist, überschreitet. Dann wird das wehrlose Kind allzu libidinös beeinflusst, geprägt, für sein Leben konditioniert – und durch die Liebe ,verdorben'. Was sonst kann Gottfried Keller meinen, wenn er in seinem Sinngedicht von der „ungehörigen Liebessucht verderbter Kinder“ spricht? –
Wie steht es da mit dem Ödipuskomplex : die ambivalenten, zugleich zärtlichen wie feindseligen Regungen des Kindes in der phallischen Phase seiner psychosexuellen Entwicklung? Unbewusst richten seine sexuellen Wünsche sich da auf den Elternteil entgegengesetzten Geschlechts; gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Teil, den es als Rivalen betrachtet, wird zugleich Eifersucht und Hass empfunden.
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