An jenem Freitagabend war Johnny so brav und umgänglich, dass ich mir allein deswegen schon die ersten Sorgen über den Gesundheitszustand meines Sohnes machte.
Und wie das bei fürsorglichen Müttern weltweit wohl so ist, griff ich zuerst mit der Hand an seine Stirn, um die Temperatur zu fühlen.
Oh Schreck! Das Köpfchen war heiß.
Sofort legte ich ihm kühlende Umschläge an. Das Kind schlief mit trüben Augen ein, noch bevor ich unser familiäres „Bubu“-Ritual beendet hatte. Dazu gehörte neben Zähneputzen und Windelgeschäft auch das kleine Handpuppentheater mit Kuh „Witz“ und Tiger „Kuschel“, die ich jeden Abend eine kleine Geschichte vorlesen ließ.
Ich liebte dieses Spiel und wir beide liebten es über so viele Jahre hinweg, dass „Witz“ und „Kuschel“ sogar später noch bei den Hausaufgaben mit Leseübungen und Rechtschreibung mit am Tisch saßen.
Irgendwann so gegen Mitternacht begann das erste wirklich beängstigende Drama mit größter Sorge um die Überlebenschancen unseres einzigen und geliebten Schatzes.
Johnny erwachte, schrie sich in seinem Bettchen im Kinderzimmer nebenan die kleine Kinderseele aus dem Leib.
Ich trug den kleinen Burschen ins warme Elternbett. Normalerweise ließ sich die verstörte Kinderseele in Mamas und Papas behütenden Armen schnell wieder beruhigen. Aber nix da. Johnny brüllte weiter.
Ich rief in meiner Not bei Mechthild an. Omas haben ja eigentlich immer und für jede Gelegenheit das perfekt funktionierende Hausrezept parat.
„Johnny hat Fieber? Dann mach ihm kalte Umschläge und gib ihm Fencheltee“, riet mir Mechthild mit verschlafener Stimme.
Unsere Milchnase bekam also kühle Socken an die Füße und einen lauwarmen Tee. Er trank gierig. Er strampelte sich die unangenehm feuchten Socken weg – und schrie weiterhin wie aufgespießt.
„Witz“ und „Kuschel“ wurden für eine ausgiebige Märchenstunde zum Leben erweckt.
„Benjamin Blümchen“ trötete fröhlich aus dem Kassettenrekorder. Hatte Johnny vielleicht Bauchschmerzen? Stundenlang trugen Henrik und ich unseren gequält jammernden Sonnenschein durch das Haus, versuchten es mit liebevollen Bauchmassagen und mit Wärmflasche.
Unsere Milchnase schrie.
Das Fieber stieg.
Wir waren mit unserem elterlichen Latein jetzt am Ende.
Am Ende waren es auch unsere Nerven.
Meine Milchnase hatte inzwischen eine Temperatur von 39,6 Grad, Tendenz steigend.
Meine Ängste schwollen an.
Tendenz steigend.
Ich zitterte vor lauter Sorge.
Das Kind zitterte vor Fieber.
Henrik wurde es unheimlich.
Er packte Kind und Frau in Daunenjacken, Mützen und Handschuhe ein und holte das Auto. Draußen herrschte typisch ungemütliches Herbstwetter mit kaltem Nieselregen.
Wahrscheinlich haben alle Familien eine solche Nacht wenigstens einmal pro Familiennachwuchs mitgemacht. Ich gehe mal davon aus, dass die Sorge um das jeweilige Kind sicher auch nicht mit wachsender Anzahl abnimmt.
Es ist wohl so: Jemanden zu umsorgen heißt immer auch, sich um jemanden zu sorgen.
Wir leben auf einem Dorf. Aber wir haben Glück, dass unsere sozialkompetente Nachbarstadt sich den Luxus eines eigenen Krankenhauses gönnt. Trotz allgemeiner Geldnot der umliegenden Gemeinden fühlen wir uns zumindest medizinisch noch ganz gut betreut.
Wir drei völlig aufgelösten Hesselbachs entern also so gegen drei Uhr in der Frühe die Ambulanz unseres Krankenhauses, in dem Johnny 18 Monate zuvor geboren worden war.
Schreiende Milchnase, nervös stotternde Mama, Papa mit zerknittertem Pyjama.
Allein unser aufgelöster Anblick muss ein ungeheures Mitleidsempfinden bei der übermüdeten Nachtschicht ausgelöst haben.
Frau Doktor setzte das jammernde Fieberbündel auf einen Behandlungstisch, eine Schwester brachte Kaffee.
Natürlich nicht für das Kind.
Sondern vor allem für die Frau Doktor. Die war wahrscheinlich von uns Hesselbach-Bande gerade aus ihrem Bereitschaftsschlaf gerissen worden.
Aber wer kann, der kann.
Frau Doktor kramte ein paar bunte Spielzeugautos hervor, lenkte Johnny einen Moment lang damit ab und hatte so eine Chance, das wie wild um sich schlagende und windende Kind zu untersuchen.
„Fieber 40 Grad, das ist nicht gut“, sagte Frau Doktor. Diese Erkenntnis hatten Mama und Papa Hesselbach auch ohne medizinische Fachkenntnisse schon gewonnen.
Frau Doktor hörte die Brust und den Rücken ab, untersuchte Hals, Augen und Ohren. „Schwellung und Sekretbildung deuten auf eine Mittelohrentzündung hin. Äußerst schmerzhaft und leider auch nicht untypisch bei Kleinkindern“, meinte Frau Doktor und glaubte wohl, uns mit ihrer Diagnose beruhigen zu können.
Wie denn, wenn das Kind schreit und ich nun wusste, dass es deshalb schreit, weil es höllische Ohrenschmerzen ertragen musste.
Behandlung?
Aber doch nicht im Krankenhaus.
Frau Doktor drängte uns also mit dem gepeinigten Kind wieder zurück in den herbstlichen Nieselregen, rein ins Auto und quer durch die ländliche Walachei zur nächsten geöffneten Nachtapotheke. Wenigstens konnte uns die verschlafene Nachtschwester in der Ambulanz die Adresse der einzigen Notapotheke in unserer Umgebung geben. Die Adresse lag so in etwa dreißig Kilometer entfernt in der nächst größeren Stadt. Wir suchten unseren Optimismus in der Vorstellung, dass zu dieser nachtschlafenden Zeit sicher nicht mit einem Stau im Berufsverkehr zu rechnen sei.
Um vier Uhr morgens klingeln wir den verschlafenen Apotheker aus seinem Bett. Dafür war der allerdings richtig nett und zeigte echtes Mitgefühl mit unserem kleinen Mittelohrentzündungs-Patienten. Wenn ich morgens um vier Uhr aus dem Bett geschmissen werde, selbst wenn wir in den lang ersehnten Urlaub fahren wollen, reagiere ich eigentlich immer eher wie eine Brennessel. Gereizt und bitter.
Herr Apotheker reichte uns eine prall gefüllte Tüte im Diskounterformat mit diversen Medikamenten, Tinkturen und Aufgüssen. „Damit geht die Entzündung schnell wieder zurück und dann hat ihr süßer Sohn auch keine Schmerzen mehr“, versprach der gute Mann.
Allerdings bezahlten wir für dieses Versprechen den Nachttarif. Mit Karte. Denn der Betrag überschritt bei Weitem das übliche Budget, das Henrik als Bargeld im Portemonnaie so mit sich herumträgt.
Als wir zu Hause ankamen, war Johnny längst vor lauter Erschöpfung in seinem Kindersitz eingeschlafen. Der arme Kerl hatte nämlich eine fast sechsstündige Odyssee hinter sich. Das Fieber war noch immer nicht gesunken und ich befürchtete nun obendrauf auch noch eine dicke fette Grippe, weil wir das kranke Kind nächtens durch den Regen gezerrt hatten.
Draußen im Garten zwitscherten die ersten Vögel, die sich von dem grässlichen Herbstwetter noch nicht in den Süden hatten treiben lassen. Henrik machte Kaffee.
Im Radio liefen die Sechsuhrnachrichten.
Ich legte mich zusammen mit Johnny ins Elternbett.
Die Medizin wartete auf ihren Einsatz.
Mein schlechtes Gefühl verfolgte mich. Was für eine Rabenmutter war ich doch, mein fieberndes Kind mitten in der kalten Nacht ins Krankenhaus zu schleppen und dann noch die halbe Nacht eine Schnitzeljagd zur einzigen geöffneten Apotheke zu veranstalten.
Milchnase fertig und schlafend.
Mann fertig mit den Nerven, übermüdet und schlechtgelaunt.
Mutter fertig und geplagt von jener sorgenvollen Frage, die mich noch so häufig in den nächsten Jahren quälen würde: „Habe ich jetzt als Mutter völlig versagt?“
Im Verlauf jenes katastrophalen Wochenendes ließ das Fieber endlich nach. Die schmerzhafte Entzündung in Johnnys Ohr wohl auch, denn schon am Samstagabend lachte er über die Geschichten von „Witz und „Kuschel“ und ramponierte mit seinem nigelnagelneuen Tretroller das häusliche Mobiliar.
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