Eberhard Panitz - Meines Vaters Straßenbahn

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Liebe, Leid und Zuversicht im zerbombten Dresden – Neuanfang und Aufbau vor einer eiligen Ewigkeit von Jahren.
Die autobiographische Erzählung über eine Dresdner Familie, im Jahre 1980 von Celino Bleiweiß für das DDR-Fernsehen verfilmt, widerlegt die Legende, daß 'solche Bücher' in der DDR nicht gedruckt worden wären.
Der Vater lebt im engen Kreis der Familie und des Berufs – seiner Straßenbahn. Nach dem verhaßten Krieg und einer langen Gefangenschaft, angesichts der Stadt in Trümmern, findet der Vater trotz aller Anstrengungen und Illusionen nicht in sein gewohntes Gleis zurück. Mühselig und fragend versucht sich der Sohn selbst in dem umgestülpten Leben zurechtzufinden. Dies in einer dramatischen Zeit, als aus der Verwüstung und Verwirrung eine neue Welt entstehen sollte: Träume, Hoffnungen, Freuden und Lasten der DDR-'Gründergeneration'.
Die Neuauflage folgt dem Text der DDR-Ausgabe von 1979 und wurde von Eberhard Panitz um ein aktuelles Vorwort und das einstige Echo zu Buch und Film im historischen Dresdner Straßenbahner-Lokal 'Linie 6' ergänzt.

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Eberhard Panitz

Meines Vaters

Straßenbahn

Erzählung

Verlag Wiljo Heinen

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Und nun wollen wir Sie nicht weiter beim Lesen stören…

Die Kinder sind in alle Welt zerstreut,

aber jedes hat an Stelle

der verschwundenen Erbschaft

den Atem des Elternhauses

wie ein Stück von Vaters Totenhemd mitgenommen.

Bella Chagall: Brennende Lichter

Meines Vaters Straßenbahn,

wie sie einmal war, gibt es nicht mehr. Schon als ich im Jahre 1978 dieses Buch schrieb, gab es kaum noch irgendwo Straßenbahnschaffner, die mit ihrer Schaffnerkasse am Hals, Fahrkarten verkauften. Zum Entsetzen meines Vaters, der zeitlebens Schaffner gewesen war, taten es kleine Boxen auf dem Vorderperron auch, in die man damals zwei Groschen hineinsteckte, mehr kostete die Fahrt quer durch meine Heimatstadt Dresden bis 1990 nicht. Ich schrieb das Buch bei einem längeren Studienaufenthalt im Mittelwesten der USA, wo es ohnehin keine Straßenbahnen gab und gegeben hatte, nur in San Francisco sah ich dann zu meiner Freude die berühmten Cable Cars. Ich fuhr damit über die Hügel und durch China-Town zum Fischereihafen und wurde unterwegs erstaunlicherweise noch von uniformierten Straßenbahnschaffnern abkassiert. Das hat mich darauf gebracht, über Verlorenes aus früher Kindheit und der Jugendzeit nachzudenken. Ich begann dort dieses Buch zu schreiben und schrieb es auch in den fünf Monaten, die ich da lebte, zu Ende. Erstaunlicherweise fiel mir in der Ferne und mit dem Abstand so vieler Jahre vieles wieder ein, sogar die Straßen und Wege hatte ich wie den genauen Stadtplan und die Wanderkarten mit den Wäldern, Gewässern und Bergen um Dresden ganz frisch in Erinnerung, sogar in der völlig anderen Welt direkt vor Augen.

Mein Vater war schon tot als ich dieses Buch schrieb meine Mutter ist - фото 1

Mein Vater war schon tot, als ich dieses Buch schrieb, meine Mutter ist inzwischen gestorben. Über ein halbes Jahrhundert ist es ja her, als geschehen ist, was hier geschildert wird – eine ereignisreiche Zeit, für uns inmitten Europas nach dem furchtbaren Krieg dann trotz allem eine Friedenszeit. Es ließe sich von meinen Schulfreunden erzählen, die sich unlängst fast vollständig und noch quicklebendig zusammenfanden. Sogar eine Lehrerin, die allerjüngste, uns im 9. und 10. Schuljahr nur wenige Lektionen vorauseilende Russischlehrerin, war mit dabei. Immerhin die traurige Kunde vom Tod zweier Mitschüler erreichte uns, dazu die von fast allen älteren Lehrern, die ja heute neunzig, wenn nicht hundert Jahre alt wären. So sind auch fast alle Verwandten, von denen hier erzählt wird, tot – aber bei weitem nicht die lieben Cousinen und Cousins, der jüngere Bruder und die eine oder andere Jugendliebe und somit Beinahe-Verwandtschaft. Doch manche der frühen und späteren Freunde und Weggefährten habe ich aus den Augen verloren. Klein war schließlich der Kreis, als wir uns nach der neuerlichen Zeitenwende noch einmal in dem zauberhaften Dresdner Straßenbahnlokal »Linie 6« versammelten, wo wir einst in großer Runde die Premiere dieses Buches und des Fernsehfilmes gefeiert hatten.

Ich bin mir nicht sicher, ob es dieses berühmte Straßenbahn-Lokal heute noch gibt – oder ob es auch abgeschafft ist wie so manch Einzigartiges aus unserer versunkenen Welt?

Eberhard Panitz, im August 2006

Meines Vaters Straßenbahn

Es waren fast auf den Tag genau fünfundzwanzig Jahre, die ich in Berlin gelebt hatte, als ich eines Abends, an der Warschauer Brücke, in die Straßenbahn stieg und meinen Vater traf. Ich wollte zuerst meinen Augen nicht trauen; denn soviel ich wußte, war er zeit seines Lebens nie aus Dresden herausgekommen, nur, notgedrungen, im Krieg. Immerhin war es möglich, daß er als Veterinärsoldat irgendwann einmal kurierte Artilleriepferde auf einem Eisenbahntransport quer durchs Land und zur Front begleitet hatte. Warum sollte er nicht auf dem Rangierbahnhof unter der Warschauer Brücke die Tiere getränkt und gefüttert haben, vielleicht zwischen Trümmern und Rauch, in einem seltenen Moment der Ruhe nach einem Bombenangriff?

Aber das war lange her, fast vergessen, ich konnte mir darüber kein rechtes Bild machen, weil ich damals noch ein Kind und von allen ernsten Unterhaltungen ausgeschlossen war. Sicher hatte mein Vater davon erzählt, als er ein paar Monate vor Kriegsende kurz auf Urlaub kam, bedrückt, weil er nun an die Oder mußte, wo schon die Front stand. Ich erinnerte mich, daß von einem Bombardement und dem Tod vieler Pferde die Rede gewesen war, deshalb hatte man Vater einer Flakbatterie zugeteilt, die jedoch keine Flugzeuge, sondern Panzer bekämpfen sollte…

Damals wohnten wir in Dresden-Neustadt, nahe der Heide und dem Schützenhofberg, die Straßenbahn fuhr noch ohne Hindernisse vom Wilden Mann über die Marienbrücke und durch die Altstadt bis nach Plauen und Coschütz. Es war fast wie im Frieden, obwohl mein Vater statt der Straßenbahneruniform nun eine Soldatenuniform trug. Meist kassierten Frauen das Fahrgeld, es gab sogar weibliche Straßenbahnführer, junge Frauen, die den daheimgebliebenen alten Männern Konkurrenz machten und in Rekordzeiten Niedersedlitz erreichten, obwohl sie dadurch den Fahrplan durcheinanderbrachten. »Ein Chaos ist das«, sagte mißbilligend mein Vater bei diesem letzten Urlaub, wenige Tage vor den Bombenangriffen Mitte Februar. Denen folgten noch einige im März und April, bis die Stadt ein Trümmerhaufen war. Viele Triebwagen und Anhänger wurden dabei beschädigt, Oberleitungen zerfetzt, Gleise verbogen und zerstückelt; die meisten Strecken waren wochenlang unpassierbar. Durch Kollegen meines Vaters hörten wir später, daß viele der jungen, eifrigen Fahrerinnen ums Leben gekommen waren, und in mehreren Straßenbahnzügen hatte man Dutzende verkohlter Leichen von Fahrgästen gefunden.

Ich war verwirrt, als ich meinen Vater in der Straßenbahn der Linie 4 an der Warschauer Brücke sah und er zu mir sagte: »Junge, das Fahrgeld, bitte.« Es war immer ein bißchen rauchig in dieser Gegend, die Güter- und Personenzüge rangierten Tag und Nacht auf zwanzig Gleisen da unten hin und her. Die Schwaden zogen über die Brücke, durch die angrenzenden Straßenfluchten, und umwölkten auch die Autos und Fußgänger, die deshalb manchmal in Gefahr gerieten. An diesem Abend war es besonders düster nach einem Regenschauer, der mich erwischt hatte, ehe ich in die Bahn eingestiegen war. Nun wollte mir nicht in den Kopf, daß ich Fahrgeld zahlen sollte, noch dazu meinem Vater. Ich hatte schon meine zwei Groschen in die Zahlbox gesteckt, wie es neuerdings üblich war, und einen Fahrschein in der Hand. »Hier«, sagte ich, brachte jedoch nicht fertig, ihm den Schein zu zeigen, den Beweis, daß sein Erscheinen überflüssig, ja anachronistisch war. »Hier bist du jetzt?« fragte ich verlegen. »Schon lange?«

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