Nachdem ich als Zehnjähriger Pimpf geworden war, kam Vater auf Urlaub. Er sah mich in meiner Uniform mit dem Braunhemd kopfschüttelnd an. »Mußtet ihr das selber kaufen, dieses Senfhemd?« fragte er. Er hatte seine Uniformen stets kostenlos bekommen, entweder vom Straßenbahndepot oder von der Wehrmacht, anders erschienen sie ihm unerträglich. Meine Mutter fiel ihm ins Wort, solches Gerede könne Kopf und Kragen kosten. »Der Junge«, flüsterte sie und nahm mich beiseite. »Daß du nie so was weitersagst.« Mein Vater amüsierte sich jedoch so sehr über das Wort »Senfhemd«, daß er immer wieder darauf zurückkam. »Wenn man nicht mal in seinen eigenen vier Wänden reden kann, wie man will«, hielt er ihr entgegen, »dann ist überhaupt alles Senf.«
Meist ging es bei solchen Auseinandersetzungen um mich; Achim, mein Bruder, war noch zu klein. Bald kam aber die Zeit, da er bei allem mit dabeisein wollte, vor allem beim Spielen im Hof, bei unseren Späßen und Streichen, die den Krieg und das besorgte Gerede der Eltern vergessen ließen. Wenn wir ein Portemonnaie an einen Zwirnsfaden banden und, hinter einer Mauer versteckt, die Leute foppten, lachte mein Bruder so laut und verräterisch, daß ich ihm den Mund zuhalten mußte und er fast erstickte. Er lachte von kleinauf gern und laut wie Vater, überhaupt war er ihm ähnlicher, ich dagegen mehr Mutter. Kichernd stand er da, wenn ich die Jungvolk-Uniform anzog, das Koppelschloß mit dem Fahrtenmesser umschnallte und die komische Skimütze aufsetzte. Beim Marschieren, im Gleich- oder Achtungsschritt, auf dem Geibelsportplatz, hopste er hinterm Fußballtor herum und äffte uns nach. Er grölte laut und kreischend mit, wenn wir das »Englandlied« oder »Wir lagen vor Madagaskar« sangen, obwohl er viel musikalischer als ich und ein guter Sänger war. Mit vier oder fünf Jahren spielte er auf Großmutters Klavier, lauter komische Sachen, alte Schlager von den »Wanzen, wie die tanzen, immer an der Wand lang« oder von der Festung Königstein, »Juppheidieh, juppheidah!«. Einmal bekam er von unserm Fähnleinführer eine Backpfeife, als er dieses Ulklied während eines Fahnenappells auf dem Sportplatz grölte. Er fiel hin, blieb eine Weile liegen, dann rief er nach mir. Als ich abends nach Hause kam, saß er mit rotem Gesicht da und schrie mich an: »Du Feigling!« Ich schämte mich, weil ich mich nicht vom Fleck gerührt hatte, als es passierte, doch sagte ich mit aller Entschiedenheit: »Du Knallkopp, das ist kein Kindergarten, laß dich dort erst wieder blicken, wenn du aus den Windeln bist.«
Vater hatte uns beiden Jungen Mundharmonikas geschenkt. Er spielte selbst sehr gern und zeigte uns, wie er die lauten, leisen, zarten und kräftigen Töne mit der gewölbten Hand nachhallen ließ, hielt dabei die Augen geschlossen und lächelte, wenn ihm eine Melodie, etwas von Lehár oder Puccini, besonders gut gelungen war. Ohne zu üben, auch mit geschlossenen Augen, spielte sie mein Bruder nach und begleitete ihn manchmal mit einer zweiten Stimme, Zwischentakten und Akkorden, daß es sich fast wie ein Orchester anhörte. Ich aber phantasierte auf der Mundharmonika nur herum, vergaloppierte oder zerdehnte die Melodien, kam aus dem Takt, daß es schauerlich klang. Die Texte modelte ich beim Singen um, weil ich sie nicht genau kannte oder gerade an etwas anderes dachte. In der Schule fiel es dem Lehrer gar nicht auf, ich bekam sogar Lob, weil ich beim Singen oder Gedichtaufsagen niemals steckenblieb. Doch mein Bruder verzog bei jedem falschen Ton oder Wort das Gesicht, schüttelte sich und rief: »Verstimmt!« Bei Vaters letztem Fronturlaub verpfuschte ich das Lied aus dem »Zarewitsch« von dem Soldaten, der einsam am Wolgastrand auf Wache stand, weil ich »Soldat im Wolgasand« sang. Mein Bruder war wütend, warf seine Mundharmonika nach mir, und Vater, der bei diesem Lied Tränen in den Augen hatte, sagte nur: »Kinder, seid friedlich, dieser Krieg.«
Wer wußte, wo wir hinfuhren? Es war eine merkwürdige Fahrt, eine Reise wie im Traum. Das Licht flackerte in der Straßenbahn, es regnete immer heftiger. Ich hatte vollends die Orientierung verloren, die Fensterscheiben waren beschlagen, ich bemühte mich gar nicht mehr, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden. Auch Vater schien es egal zu sein, wo wir uns befanden. Er konnte lange dasitzen und schweigen, niemals verspürte er den Zwang zu sprechen, wenn er mit jemandem zusammensaß. Seine Gedanken ließen sich schwer erraten, obwohl sein glattes Gesicht nicht starr und unbeweglich war, sondern gespannt, aufmerksam alles beobachtend. Plötzlich lachte er laut auf und steckte mich damit an. Er brauchte gar nichts weiter zu sagen, keine Witze oder komischen Geschichten zu erzählen; in einer unmöglichen Situation zu lachen, darin war er ganz und gar der Alte geblieben. »Warum lachst du?« fragte ich trotzdem. Er blickte mich an, lachte noch immer, rückte ganz dicht an meine Seite und erwiderte: »Warum denn nicht?« Er wollte mir noch irgend etwas sagen, ich spürte es, vielleicht etwas anvertrauen, was er früher für sich behalten hatte, weil ich zu jung, mein Bruder noch jünger und Mutter zu sehr mit anderem beschäftigt war. Sein Lachen kam mir wie eine Ausflucht vor, eine Flucht vor Worten oder gar wie ein verlegenes Eingeständnis, daß vieles in seinem Leben verquer gegangen war. »Da sieht man sich nun wieder«, sagte er, nachdem er plötzlich ernst geworden war. »Du hast alles vor dir, ich hab´ alles hinter mir, aber du kannst auch manches nicht mehr ändern. Was gewesen ist, ist eben gewesen, ich hab mich damit abgefunden.«
In unsere Dresdner Wohnung schien morgens die Sonne in Stube, Küche und Bad, nachmittags ins Schlafzimmer auf der Hofseite, wo ein winziger Balkon war, der gerade genug Platz für mich, meinen Freund Wolfgang und das Kaspertheater bot, das ich zur Schuleinführung statt einer Zuckertüte von Vater geschenkt bekommen hatte. »Süßigkeiten machen dick«, meinte er, »kaspere dich lieber gesund.« Er stand oft hinter der Balkontür und amüsierte sich bei unseren lärmenden Räuber- und Gendarmspielen mehr als die Kinder, die unten auf dem kiesbestreuten Hofweg hockten, weil sie den Rasen vorm Balkon nicht betreten durften. Wir brüllten desto lauter, je dramatischer sich die Handlung zuspitzte. Oft beschwerten sich die Leute aus der Nachbarschaft, riefen: »Ruhe!« und schickten uns den Hausmeister auf den Hals, einen Kriegsinvaliden mit Parteiabzeichen, der jedesmal drohte, uns die Puppen wegzunehmen, sich aber auch nicht auf den Rasen und an den Balkon herangetraute, weil dort ein Verbotsschild stand. Einmal, bei einer grölenden Räuberjagd, wurde es ihm zu bunt, denn wir äfften ihn auch noch nach, indem wir die Puppen herumhumpeln und dummes Zeug reden ließen. Er war blitzschnell am Balkongeländer und wollte zufassen, zum Gaudi aller umklammerte da der Teufel seine Hand und ließ nicht locker, bis wir alle Puppen in Sicherheit gebracht hatten. Mein Vater, der von der Tür verschwunden war, tat so, als habe er nichts bemerkt, schenkte mir aber am nächsten Tag eine neue Puppe, ein Krokodil mit spitzen Zähnen, das noch besser zuschnappen konnte. »Dafür hast du Geld«, sagte Mutter, »und den Hausmeister machst du uns zum Feind, den anständigsten unter den Nazis hier, diesen armen, verkrüppelten Kerl, der bloß seine Pflicht tut.«
Neben Onkel Hans, zu dessen überraschender Hochzeit wir ohne Vater nach Leipzig fuhren, hatte Mutter noch drei jüngere Brüder und fünf Schwestern, die alle in der Nähe wohnten. Die Tante Helli, die älteste, hatte einen Dorfschmied geheiratet, ganz oben auf dem Berg in Brabschütz bei Dresden. Sie hatten selbst schon wieder sechs Kinder, die anderen Geschwister auch zwei, drei oder mehr, nur Tante Lotte nicht, die Lustigste trotz ihrer Krankheit, über die nur geflüstert wurde. Desto ungenierter sprach man von der Kinderlosigkeit, die gar nicht in die Familie paßte; angeblich war ihr Mann, Onkel Max, daran schuld, der keine »Puste« hatte. Wenn die ganze Familie bei der Großmutter beisammen war, hatten die Erwachsenen kaum Platz in der Wohnstube, wir Kinder quängelten noch dazwischen herum, bis die Rede auf die »Puste« kam. Da wurde es lustig, laut und besonders interessant für uns, Witze machten die Runde, Mutter wurde rot im Gesicht, und Vater stimmte das Lachkonzert an. Nur für uns gab´s keinen Pardon mehr. »Das ist nichts für euch«, rief der Dorfschmied und scheuchte uns in den Korridor, dort von der Tür weg und in die Küche. Wir hörten noch, daß Tante Helli ihn ruppig »Du Oberpuster!« nannte. Sie hatte herausgekriegt, daß es bei einer Gärtnerswitwe im Nachbardorf noch zwei Kinder von ihm gab. Niemand sonst in der Familie nahm es ihm sonderlich krumm, die Großmutter holte sogar immer ein extra großes Glas Wermutwein für ihn aus der Speisekammer und sagte lachend zu uns Kindern: »Das ist der gute Pustewein.« Auf dem Nachhauseweg fragte ich die Eltern, was das mit der »Puste« bedeutete, und bekam von Mutter nach betretenem Schweigen die Antwort, daß Onkel Max wegen seiner Arbeit in einer Steingutfabrik eine Staublunge habe, der Schmied oben in Brabschütz dagegen gute Luft, viel Bewegung, Ausarbeitung und deshalb eine so gute Gesundheit. »Also richte dich danach«, fügte Vater ganz ernst hinzu, »sonst hast du obendrein noch den Spott, wie der arme Max.«
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