Mein Vater hatte einen Bruder, Onkel Walter, der ein paar Jahre jünger und Schustergeselle war. Von ihm bekam er Lederreste, Absätze, Nägel und Holztäkse, um unsere Schuhe zu besohlen. Auch ein paar Kniffe, wie man leimte und nähte, sah er sich von ihm ab. »Wenn mal keine Straßenbahn mehr fährt«, sagte Onkel Walter, als die ersten Bomben auf die Städte am Rhein fielen, »hast du wenigstens einen Beruf.« Er wollte auch mich anlernen und prophezeite mir, daß sowieso alles in Schutt und Asche versinken und der Mensch wie früher auf allen Vieren, wenn möglich mit zwei Paar gutbesohlter Schuhe, krauchen würde. »Autos, Zeppeline, Ballons, Flugzeuge, zum Teufel damit«, schimpfte er und tippte sich an den Kopf, weil er früher hoch hinaus gewollt habe. »Du auch, was? Wie dein Vater?« fragte er mich, während ich auf seine Hände starrte, die immer schwarz vom Pech waren, das er ringsum an die Sohlen und Absätze schmierte, damit die Schuhe nach der Reparatur wie neu aussahen. Als Onkel Walter heiratete und der Pfarrer in der Kirche den Ring an seinen Finger steckte, achtete ich nur darauf, ob da Pechflecke zu sehen waren. Ich vergaß die Blumen zu streuen, drehte mich auf dem Nachhauseweg immer nach ihm um und fiel mit dem Korb voller Rosen hin. »Das bringt Unglück«, sagte Großmutter und bekreuzigte sich. »Behalt´s für dich, es wird Phosphor und Schwefel regnen und viel, viel Pech!«
Das Haus, in dem wir wohnten, war zwei Jahre vor dem Krieg gebaut worden, unser Keller war der größte und in der Mitte durch eine Säule abgestützt und als Luftschutzkeller gekennzeichnet. »Also rechnen wir mit dem Schlimmsten«, sagte Vater und schichtete die Kohlen und das Holz in den hintersten Winkel. Er las kaum Zeitungen, doch beobachtete genau, was in der Stadt passierte, durch die er täglich mehrmals fuhr. »Man lädt Sandsäcke ab«, berichtete er eines Abends. »Mir wär´s lieber, wenn sie Kartoffelsäcke brächten.« Er machte noch seine Witzchen darüber und glaubte nicht, daß die vielen Militärtransporte, die er auf den Brücken und Bahndämmen sah, schon auf dem Weg in den Krieg waren. Für das schwarze Verdunklungspapier, das es plötzlich in den Papierläden zu kaufen gab, wollte er keinen Pfennig ausgeben. »Ich klebe doch nicht meine Fenster selber zu und bezahle noch dafür.« Aber als auch vor unserem Kellerfenster Sandsäcke gestapelt und in jedem Haus Feuerlöschgeräte verteilt wurden, verging ihm das Witzeln und Lästern. Kurz vor seiner Einberufung räumte er mit den Nachbarn das Gerümpel vom Dachboden, damit im Notfall ungehindert gelöscht werden konnte. Er besorgte schließlich auch Verdunklungsrollen und befestigte sie. Für mich und Mutter kaufte er Gasmasken, und als mein Bruder geboren wurde, meinte er, für den Kleinen genüge ein nasses Tuch vor dem Mund. »Und ich«, fügte er hinzu, als er seinen Koffer packte, »ich frage mich bloß, wer mir den Mund gestopft hat. Wer sagt denn noch was? Weißt du, warum der Krieg sein muß?«
Mein Bruder war fünf Jahre, als auf Dresden die ersten Bomben fielen. Er schlief und merkte nichts, es war ziemlich weit entfernt, in Freital, nahe der Bienertmühle, von der ich nur wußte, daß dorther unser Brot kam. Manche meiner Freunde fuhren am nächsten Morgen nach Coschütz, um sich vom Berg und Felsen herab die Ruinen anzusehen. Mich hielt Mutter zurück, als ich wegwollte, sie sagte: »Bald brauchst du kein Fahrgeld zu bezahlen, wenn du Ruinen sehen willst.« Am dreizehnten Februar fünfundvierzig, am Faschingsdienstag, heulten wie fast jeden Abend die Sirenen, nachdem ich meine Indianerverkleidung gerade ausgezogen hatte. Mein Bruder erwachte nicht einmal, als wir ihn in den Keller trugen und das Knallen der Bomben näher und näher kam. Ein Stück Putz fiel von der Stützsäule herab, die Wände, an die wir uns preßten, schienen zu wanken. Der alte Herr Pietzsch hatte noch vor der Haustür gestanden und die Leuchtbomben überm Ostragehege gesehen. »Jetzt sind wir dran«, flüsterte er, als er atemlos in den Keller kam. Seine Frau erlitt einen Herzanfall, stürzte vom Stuhl und rang röchelnd nach Luft. Ich mußte meinen Bruder in die Arme nehmen, Mutter lief in die Wohnung und holte die vergessene Luftschutzapotheke, während ringsum die Bomben krachten. »Die Scheibe von der Balkontür ist zersprungen«, sagte sie und hielt einen Löffel in der Hand, zählte genau die Tropfen ab, die Frau Pietzsch bekommen mußte, und flößte sie ihr ein. »Geht´s wieder besser?« fragte sie. Und als das Licht verlöschte, legte sie einen Arm um mich, den anderen um meinen Bruder und sagte: »Das bedeutet nichts, gar nichts, nur ein Kurzschluß oder eine Stromunterbrechung, ein Kabel ist kaputt. Hört ihr, jetzt ist´s fast still.«
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