Den Puppenkoffer habe ich vor meiner Mutter immer gut versteckt. Der Schatz sollte mir allein gehören.
Unteilbar.
Unzensiert.
Unkommentiert.
Und weil ich schon früh gern selbst meine kleinen Geheimnisse gehütet habe, gebe ich mich nicht den Illusionen hin, dass ausgerechnet mein forscher Sohn sich mir in allen Lebenslagen offenbaren wird.
Will ich ja auch gar nicht.
Es ist halt so:
Wenn die Zeit gekommen ist, in der es für eine Mutter kaum noch Gelegenheiten gibt, vom eigenen Kind gemeinsame Erinnerungsstücke aufzuheben, dann ist die Zeit gekommen, in der das Kind seine eigenen Geheimnisse als kostbare Erinnerung des Erwachsenwerdens verwahrt.
Wer will einen Vogel daran hindern, in den Himmel zu fliegen, wenn er gelernt hat, wie er dafür seine Flügel zu benutzen hat?
Daniela gießt uns allen ein randvolles Glas Rotwein nach und lümmelt sich schläfrig auf die Hollywoodschaukel. Sie richtet sich auf eine längere Verweildauer ein.
Henriks normalerweise ehr tatkräftig zupackende Männerhände ziehen fast schon andächtig mit extremer Vorsicht eine kleine Kinder-Geschenkbox mit aufgemalten Bärchen aus den Tiefen des magischen Kartons.
„Schau mal, Katja-Schatz. Weißt Du noch, was sich in dieser Schachtel befindet?“ Umständlich öffnet Henrik den Deckel und steckt seine Nase in die Box. Er zieht vorsichtig mit spitzen Fingern ein kleines Armbändchen aus dem Karton.
Winzig ist es.
Mit weißen und blauen Perlen.
Und auf den Perlen steht der Name „John H. 21.07.1994“. „Das würde heute kaum noch um Johnnys dicken Zeh passen“, kichere ich.
Dann hält mir Henrik ein paar zusammengeheftete Schwarz-Weiß-Fotos vor die Nase.
„Das sind die ersten Ultraschallaufnahmen. Meine Güte, damals war Johnny gerade mal sieben Zentimeter lang. Heute zieht er den Kopf ein, wenn er durch die Tür geht.“
Ich schaue verträumt auf die alten Aufnahmen.
„Nein, ich habe nichts vergessen.
Nur ein bisschen auf Seite geräumt, um neuen Platz für unser Hier und Jetzt zu schaffen.“
Milchnase
Daniela kichert verträumt aus ihrer Kissenecke: „Ja, Ja, ich weiß noch genau, um wieviel Uhr damals am Abend vor Johnnys Geburt Katjas Fruchtblase platzte. Wir haben nämlich gerade telefoniert.
Es war der 20. Juli 1994, abends um 20.00 Uhr. Die Nachrichten hatten gerade angefangen und es war noch immer so heiß, dass man sich am liebsten Eisklötze um die Füße gebunden hätte.“
Schon merkwürdig, dass ein so besonderer Tag für immer und ewig glasklar in den Erinnerungen erhalten bleibt. Er schwimmt immer ganz oben und lässt sich auch durch die gewaltige Last der vielen folgenden Turbulenzen nicht in die Tiefe drücken.
Wie in guten, so in schlechten Zeiten, hat unser Pfarrer damals bei der Hochzeit gesagt.
Und für eine Kindsgeburt gilt das Gleiche.
Wir erlebten unsere Höhenflüge, Abstürze, perfekten Glücksmomente und Katastrophenmeldungen.
Wie jede Familie.
Wie jede Mutter, die ihr Kind liebt und es gern in Watte packen möchte, wenn es einmal etwas fiebrig und ungemütlich wird.
Und wie jeder Vater, der aus seinem Sohn eine Bundesliga-Legende machen möchte, weil er in der E-Jugend sein erstes Fußballtor geschossen hat.
„Du hattest noch nicht mal eine Zahnbürste eingepackt, als es plötzlich hektisch wurde und ich dich ins Krankenhaus fahren wollte“, erinnert sich Henrik, der noch heute den Kopf schüttelt, weil ich die Sache mit dem Kinderkriegen in seinen Augen viel zu entspannt angegangen bin.
„Du bist dicker und dicker geworden.
Konntest dir kaum die Schuhe zubinden und im Bett verbrachte ich einige Wochen lang gemeinsam mit einem schnaufenden Nilpferd. – Aber es schien dir gar nicht in den Sinn zu kommen, dass dein Bauchbewohner irgendwann dann doch mal sein warmes Nest verlassen wollte“, kichert Henrik weinselig.
Stimmt.
Johnny war während der Schwangerschaft für mich keine wirkliche Belastung.
Klar wurde ich dick wie eine Elefantenkuh, aber ansonsten konnte ich während der gesamten Schwangerschaft Bäume ausreißen.
„Du hast sogar das Haus von oben bis unten renoviert und klettertest noch im achten Monat auf den Leiter herum, um die Gardinen aufzuhängen“, erzählt Daniela kopfschüttelnd. „Was haben wir mit dir geschimpft – aber wir hätten genausogut mit den Farbeimern selbst reden können. Die hätten uns genausogut zugehört!“ Henrik reibt sich die Schläfen.
„So verkehrt hat Katja sich ja wohl auch gar nicht verhalten – sonst hätte Johnny ja nicht neun Tage länger in ihrem Bauch verbracht als eigentlich geplant“, widerspricht Daniela.
Henrik lacht. „Richtig. Der Arzt im Kreissaal hat uns letztlich ja sogar recht ungewöhnliche Hausaufgaben erteilt, damit die Schwangerschaft nicht schließlich doch noch mit einem Kaiserschnitt endete.“
Daniela hebt die Augenbrauen. „So, was denn? Etwa diese üblichen Hebammentipps wie das Schleppen von Wäschekörben und Trinken diverser übelriechender Tinkturen?“ „Das auch!“ erinnere ich mich an meine strickte Weigerung, dieses Gebräu aus Rizinusöl, Aprikosensaft, Bier und Pflaumenmus zu schlucken.
Meine Hebamme hat deswegen einen regelrechten Streit mit mir angefangen.
Ich war wohl in ihren Augen eine unbelehrbare und ungezogene Mami, die sich schon vor der Geburt ihres Babys als Rabenmutter outete. „Nein, mein Doktor war ein echter Praktiker. Wir wurden ärztlich dazu verdonnert, abends eine gehörige Portion Sex mit einem Schuss Rotwein einzunehmen“, kichere ich mit versonnenem Blick auf das schon wieder geleerte Weinglas in meiner Hand und auf meinen Göttergatten.
„Nun, irgendwann wurde unsere Milchnase ja dann geboren – sonst würden wir hier jetzt nicht seine Volljährigkeit begießen und in glorreichen Kindheitserinnerungen herumrühren“, nuschelt Daniela.
Nein, nicht irgendwann.
Mein Sohn wurde am Donnerstag, dem 21. Juli 1994, geboren.
Es war 4.22 h morgens und draußen zwitscherten schon die Vögel ihren Willkommensgruß, als John sich zum ersten Mal seine kräftigen Lungen mit Sauerstoff vollsog. „Was hat der Kerl geschrien“, erinnert sich Henrik. „Das klang regelrecht nach Protest und nach Rebellion.“
Genau.
Erst mit diesem ersten herzhaften Babyschrei haben sich Henrik und ich nämlich endgültig auf seinen Namen geeinigt. Wir wussten zwar seit der 24. Schwangerschaftswoche, dass wir einen Sohn bekommen würden, aber wir fanden so viele Namen schön und passend, dass uns die Wahl wirklich schwergefallen war.
Es sollte ein Max oder Moritz werden, vielleicht auch ein Marvin oder Kevin.
Sogar historisch bedeutende Namen wie Alexander, Henry und Julius zogen wir in unsere engere Wahl.
John hieß letztlich John, weil er uns mit einer so durchdringenden Stimme in seinen Bann zog, dass die Hebamme nur meinte, dass aus dem Kerlchen mal ein großer Musiker werden müsse. Also waren Henrik und ich uns einig. Der Name John war der richtige.
Wie John Lennon von den Beatles.
Daniela lauscht melancholisch. Sie hat bisher kein Kind geboren. Und eigentlich ist sie jetzt als Erstgebärende auch schon zu alt. Schade eigentlich. Ich finde, dieses Erlebnis sollte keiner Frau vorenthalten werden.
Obwohl man das ja heutzutage relativieren sollte. Früher tickte die biologische Uhr bis zum 30. Geburtstag. Heute liest man in den Zeitungen von Fünfzigjährigen, die ihr erstes Kind zur Welt bringen. Gesund und munter und mit glücklichen Eltern.
Schon verrückt, wie sehr sich mit dem Wandel der modernen Sport- und Gesundheitsphilosophien das Auftreten einer ganzen Generation gewandelt hat. Früher galt eine Fünfzigjährige als ältere Frau. Meine Mutter trug bei der Hausarbeit geblümte Hauskleider, einen Dutt mit grauen Haaren und plumpe Gesundheitsschuhe.
Читать дальше