Maren Nordberg
Teufelsweg
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Titel Maren Nordberg Teufelsweg Dieses ebook wurde erstellt bei
I I Wir brauchen nicht so fortzuleben, wie wir gestern gelebt haben. Machen wir uns von dieser Anschauung los, und tausend neue Möglichkeiten laden uns zu neuem Leben ein. Christian Morgenstern
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Impressum neobooks
Wir brauchen nicht so fortzuleben,
wie wir gestern gelebt haben. Machen
wir uns von dieser Anschauung los,
und tausend neue Möglichkeiten laden
uns zu neuem Leben ein.
Christian Morgenstern
Sie ertastete mit der Hand das überraschend kühle Metallrohr hinter ihrem Kopf. Weit kam Inga Gartelmann nicht, der Schmerz schon, er strahlte augenblicklich bis in die Zehenspitzen.
So zuckte sie zurück und ließ den Arm ergeben auf die dünne Decke sinken. Vielleicht geht es mit dem anderen besser, überlegte sie und hob ihn vorsichtig an. Sie mochte ihn aber nicht nach hinten ausstrecken, stattdessen näherte sie sich mit den Fingerspitzen unwillkürlich ihrem Hals. Dabei berührte der transparente Kunststoffschlauch leicht ihre Wange.
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war diese eigenartige, schmierige Flüssigkeit. Dieses schleimige, rötlich-braune Zeug, das unaufhörlich auf ihren Hals getropft war. Ihr stieg wieder der unerträgliche Geruch in die Nase und sie musste sofort würgen. Erst als sie sicher war, dass sie die Spukschale aus rauer Recycling-Pappe doch nicht benötigte, betastete sie vorsichtig die Stelle am Hals. Unterhalb des Ohrs fühlte sich alles weich, aber trocken an. Sie führte ihre Finger vorsichtig in Richtung Nase und schloss die Augen. Es war der Geruch nach Desinfektionsmitteln, der nicht stimmte. Alles roch falsch und fremd. Dabei war es vor wenigen Stunden noch so schön gewesen. Inga presste die Augenlider ganz fest zusammen. Je mehr sie zudrückte, desto klarer wurde die Erinnerung, dort fühlte sie sich wohl und geborgen.
Das sanfte, gleichmäßige Fahrgeräusch wirkte wieder angenehm entspannend, sie lehnte sich zufrieden im Beifahrersitz zurück. Leise summte Inga mit einem zarten, fast entrückten Lächeln money money money , ihre Flipflops mit den großen rot-weißen Plastikblüten über den Zehen wippten im Takt. Die Sonne schien durch das Seitenfenster und brannte auf den rechten Arm. Ihr gefiel die Wärme, auch wenn es richtig heiß war.
»Frau Gartelmann.«
Die sattgrünen, unwirklich leuchtenden Bergwiesen zogen rechts und links der Autobahn vorüber.
»Frau Gartelmann!«, gleichzeitig zog und schüttelte jemand ungeduldig an ihrer linken Schulter. Bei jedem Stoß durchzuckte sie ein Schmerz, als ob sie sich an einem elektrischen Weidezaun festklammerte. Augenblicklich riss Inga die Augen auf, aber nur, um sie geblendet sofort wieder zuzukneifen. Das war wirklich die Höhe, sie nachts andauernd aufzuschrecken.
»Frau Gartelmann, Ihre Pupillenreflexe sind unauffällig, sonst auch alles in Ordnung?« Inga sagte nichts und atmete auf, als die Tür wieder zufiel.
Erst dann biss sie sich vor Wut auf die Zunge und schmeckte sofort Blut, klar, die Bisswunden gingen wieder auf. Sie roch immer noch diesen ekeligen Schweiß, den sie schon kannte. Gab es hier in diesem verfluchten heißen Krankenhaus denn kein vernünftiges Personal? Sie würde einen Teufel tun und dieser Person von ihren Schmerzen berichten, nicht, dass sie sich noch über sie beugte, um eine Injektion zu verabreichen. Inga hatte doch Glück gehabt, hatten sie alle immer wieder betont, ihr fehlte eigentlich nichts. Schließlich war sie genau untersucht worden und abgesehen von einigen Prellungen hatten die Ärzte nichts gefunden! Dass ihre Wirbelsäule nach solch einem Aufprall protestierte und Schmerzsignale versandte, konnte man ihr nicht verdenken.
Nein, ihr war nichts passiert! Dieser zynische Satz klang ihr noch in den Ohren. Nichts! Dabei war er so schön gewesen, der, so wie es aussah, letzte gemeinsame Familienurlaub. Sie hörte ihr eigenes unterdrücktes Schluchzen und ballte ihre Hände zu Fäusten. Dabei hatte sie sich so gefreut, dass Marc kurz vor den Sommerferien doch noch zu dem Entschluss gekommen war, sie in den Campingurlaub nach Italien zu begleiten. Mit fünfzehn Jahren war das keine Selbstverständlichkeit, viele seiner Freunde fuhren nur noch mit Jugendgruppen, aber keinesfalls mehr mit den eigenen Eltern in den Urlaub. Marc war ihr einziges Kind geblieben, was die Sache auch nicht leichter machte. Sie hatten sich mindestens noch ein zweites Kind gewünscht, aber an die schwierige Zeit mit den ganzen Fehlgeburten wollte sie jetzt auch nicht denken. Ihr Mund fühlte sich an wie mit Mehl bestäubtes Schmirgelpapier und das Wasserglas war schon seit Stunden leer. Kein Wunder, dass sich bei dieser sommerlichen Hitze auch die Krankenzimmer dieses süddeutschen Kleinstadtkrankenhauses in Brutöfen verwandelten, die sogar nachts nicht mehr auskühlten. Aber sie mochte ja die Wärme, eigentlich. Die Aussicht, mit dem Klingelknopf wieder die sehr persönlichen Duft verbreitende Grobmotorikerin ins Zimmer zu holen, gefiel ihr nicht. Doch der Tropf fesselte Inga an das Bett, denn der Beutel mit der klaren, farblosen Lösung hing hoch über ihr. Zum Wasserhahn an der Seitenwand des Krankenzimmers kam sie so nicht. Zaghaft zog sie ein wenig am farblosen Plastik, das von ihrem Arm zum Infusionshalter hinaufführte, im Liegen hatte sie keine Chance. Es wurde Zeit, dass die Flüssigkeit endlich in ihre Vene geflossen war. Aber wenn sie aber dabei zusah, mit welcher quälenden Langsamkeit die Tropfen den Durchflussregler passierten, dauerte es sicher noch bis zum nächsten Morgen. Was bekam sie eigentlich verabreicht, wenn ihr nichts fehlte? Erstaunlicherweise besiegte eine untypische Trägheit ihre im Gehirn unaufhörlich kreisende Unzufriedenheit und Unruhe. Sie blieb einfach liegen, ohne etwas gegen ihren Durst zu unternehmen.
Es musste so gehen, sie presste die Augen wieder fest zu und lenkte ihre Gedanken zurück an den Lago Maggiore, auf den Campingplatz. Im Liegen, solange sie sich nicht bewegte, regten sich wenigstens keine Nerven im Rücken.
Selbstverständlich war die Wahl auf einen der italienischen Orte gefallen, ein Urlaub am Schweizer Ufer dieses langen, großen Alpensees war beim derzeitigen Wechselkurs des Euro unerschwinglich. In Ascona konnte man umgerechnet für eine Pizza locker achtzehn Euro zahlen, an der Promenade in Cannobio war man dagegen schon ab fünf Euro dabei. Und die Pizzas waren exzellent gewesen, sie spürte einen Moment dem Geschmack von gut gewürzter Tomatensoße, Basilikum und dem typischen Steinofenaroma des Hefeteigs nach. Rainer, ihr Ehemann, und Marc hatten den Wohnwagen gemeinsam in Cannobio auf einen Stellplatz mit Blick auf den glitzernden See manövriert. Inga erinnerte sich genau, wie sie spürte, dass der Urlaub in dem Moment begann, als der Wohnwagen mit Unterlegkeilen in seiner Position arretiert wurde. Augenblicklich war die Anspannung von ihr abgefallen und sie hatten sich alle drei in Ruhe auf die Sonnenliegen gelegt, noch bevor Marc sein Zelt aufgebaut hatte. Das war ein friedvoller Moment gewesen. Inga atmete tief durch und dachte an Rainers weißen Wohlstandsbauch, den er dort der Sonne entgegengestreckt hatte. Mit Mitte fünfzig war ein Waschbrettbauch eben nur noch durch hartes Training zu erhalten. Bei diesem Gedanken musste sie in ihrem Krankenhausbett lächeln, denn Rainer war schon immer leicht vollschlank gewesen und mit den Jahren traten die speziellen Eigenschaften stärker hervor.
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