Inga stockte beim dritten Schritt in Richtung Fenster. Wie viele Runden sie schon gelaufen war, wusste sie nicht, aber sie spürte ganz klar, dass es für ihren geschundenen Körper jetzt zu viel wurde. Ein Krampf breitete sich in ihrer linken Wade aus. Das war ja lächerlich, bei den Wanderungen war das nie geschehen. Wenigstens ein anständiges Mineralwasser brauchte sie jetzt, aber schon der Gedanke an den Schweißgeruch ließ sie wieder würgen. Ihr Blick fiel auf die Infusionslösung, was wollten die ihr eigentlich in den Körper leiten? Freundlich gestimmt, weil sie den Tropf los war, griff sie nach dem Beutel mit der Flüssigkeit.
Im Stehen erreichte sie ihn ohne Schwierigkeiten, interessiert las sie die Inhaltsstoffe. Isotonische Kochsalzlösung, irgendwelche Mineralstoffe, sonst nichts. Ein anständiges Essen, eine Fruchtsaftschorle und der Tropf wäre überflüssig gewesen. Unentschlossen schüttelte sie den noch fast vollen Beutel und wartete, dass sich der ausgedehnte Wadenkrampf endlich ganz löste. Nun fing auch der Muskel im anderen Bein an zu mucken. Es reichte jetzt, fand sie und drehte den Kunststoffschlauch vom Infusionsbeutel ab. Wenn sie ihr nichts anderes anboten, musste sie eben nehmen, was da war. Sie ließ sich etwas Lösung in den Mund laufen und spürte dem komischen Geschmack nach.
Langsam führte sie ihren Gang fort, acht Schritte zum Fenster, acht Schritte zurück, dabei trank sie Schluck für Schluck den Infusionsbeutel aus und schob ihn anschließend unter das Bett. Der Beutel war leer und sie selbst fühlte sich mit einem Mal auch völlig erschöpft.
Mühsam setzte sie einen Fuß vor den anderen und zwang sich wieder zurück in die Erinnerungen.
Sie hatte ganz deutlich eine Szene von der Rückfahrt vor Augen. Marc wären beinahe einige von Rainers Weinflaschen mit Tessiner Merlot aus dem Kofferraum auf den Parkplatz einer Raststätte gerutscht. »Wenn die zu Bruch gehen, kannst du sofort per Anhalter zurückfahren und neue kaufen« , war der Originalsatz von Rainer gewesen.
»Gerne, etwas Besseres als unser Bremer Schmuddelwetter und die Schule finde ich dort bestimmt« , hatte Marc gut gelaunt als Anspielung auf die Bremer Stadtmusikanten zurückgegeben und eine der dunkelgrünen Flaschen mit einem schlichten Etikett zum Spaß in die Höhe gehalten.
»Etwas Besseres als den Tod findest du überall, also so lass uns ruhig nach Bremen fahren« , variierte sie selbst die Märchenstunde. Obwohl das Wetter in Bremen natürlich wirklich zu wünschen übrig ließ, fühlte sie sich dort wohl und heimisch. Der Urlaub hatte ihnen anscheinend allen gut getan, so entspannt und freundlich, wie sie dort auf dem Rastplatz miteinander umgegangen waren. Und sie war sich ganz sicher, dass auch Marc nach Bremen zurück wollte. Dort musste er langsam wieder ins Leichtathletik-Training einsteigen, denn die nächsten überregionalen Wettkämpfe standen bald an.
Wenn Marc nicht im Raststätten-Shop auf die verrückte Idee gekommen wäre, eine DVD zu kaufen, wäre alles anders ausgegangen.
*
Inga blieb stehen und rieb sich müde die Augen.
Gern hätte sie sich hingelegt und geschlafen, aber sie mochte sich nicht wieder in dieses Krankenhausbett legen. Vor Anstrengung und Wärme lief ihr der Schweiß mittlerweile über das ganze Gesicht, aber das war ihr egal, sie musste weitergehen.
Sie konnte ihre Erinnerungen jetzt wie einen Film ablaufen lassen. Marc kam zum Wagen zurück und schwenkte lachend eine DVD in der Sommerhitze.
»Schaut mal, welche DVD im Raststätten-Shop im Angebot war «, dabei hielt er Bastian Pastewkas erste Comedie-Staffel hoch. »Komm Mum, wenn ich in meinem hohen Alter mit den beiden Alten noch in den Urlaub fahre, lass es uns doch richtig gemütlich machen« , dazu knisterte er mit einer rotgelben Tüte Chips und schwenkte eine Colaflasche.
»Während Rainer uns fährt, schauen wir im Fond die DVD an. « Danach hatte er das Notebook im Kofferraum gesucht, die Merlotflaschen fast zerdeppert und anschließend die Filmvorführung auf der Rückbank vorbereitet. Inga wusste noch genau, wie sie sich in dem Moment gefragt hatte, seit wann er den Ausdruck Fond benutzte. Ihr Sohn wurde wirklich langsam erwachsen.
Sie hielt mitten im Krankenzimmer inne und erstarrte förmlich, was jetzt kam, gehörte nicht mehr zum Urlaub.
Sie hatte sich tatsächlich zu Marc auf die Rückbank gesetzt und die Kopfhörer übergestülpt. Und sie hatten gemeinsam Tränen gelacht, Pastewkas Gesichtsausdrücke waren zu komisch, aber sie würde ihn nie wieder ansehen können. Dann war da das Auto, das sie überholte. Ingas Hand zuckte unwillkürlich, während sie starr mitten im Raum stand und mit ihren Erinnerungen kämpfte. Hinten saß das kleine Mädchen mit den blonden geflochtenen Zöpfen. Sie hatte diesem Mädchen, das beim Lachen eine große Zahnlücke entblößte, zugelacht und sie wollte auch winken. Dazu war sie aber nicht mehr gekommen.
Inga schüttelte sich und eine eiskalte Welle ergriff ihren Körper. Es war so, als ob der Knall immer noch nachhallte und ihre Ohren wieder taub werden ließ.
Es hatte sich so angefühlt, als ob alle Luft aus ihrem Körper gepresst wurde, während die ganze Welt ein Strudel war, dann musste sie ohnmächtig geworden sein, auf alle Fälle war da nichts mehr, keine noch so kleine Erinnerung. Als Nächstes hing sie irgendwie auf der Seite und überall waren diese, zunächst noch weißen, Beutel. Sie spürte wieder die unendliche Angst der ersten Sekunden, als sie nichts von Rainer und auch nichts von Marc hörte.
Inga merkte, wie ihr Körper jetzt mitten in der Hitze einfror, diese Erinnerungen zerstörten sie regelrecht, aber sie konnte nicht anders, die Bilder drängten aus dem Gedächtnis ins Bewusstsein. Rainers erstes Stöhnen und ihre Furcht, dass Marc tot war. Es war entsetzlich gewesen und diese Angst hatte nicht nachgelassen, sie hatte sich nicht getraut, zu ihm hinzusehen. Stattdessen war ihr Blick an den Resten des Beifahrersitzes klebengeblieben. Dort, wo sie eigentlich hätte sitzen sollen, waren irgendwelche Metallteile sichtbar gewesen, die sich von vorne in die Rückenlehne gebohrt hatten. Und dann hatte sie den ersten Tropfen abbekommen, es tropfte und tropfte warm und bräunlich-rot auf sie herab. Und es stank nach Exkrementen und Erbrochenem. Sie sah wieder den rot-bräunlich verfärbten Airbag über sich, aber sie schaffte es, die aufkommende Ohnmacht abzuwehren. Ganz sicher war sie im Unfall-Wrack wieder ohnmächtig geworden, denn bis sich die Rettungskräfte bis zu ihnen vorgearbeitet hatten, musste es noch eine Weile gedauert haben. An eine Wartezeit fehlte Inga aber jegliche Erinnerung, vielleicht hatte ihr Gehirn aus Selbstschutz diese Zeit aber auch ausgeblendet, denn der nächste gespeicherte Eindruck war dann Marcs Stimme. Marc, ihr ein und alles, er hatte mit den Sanitätern gesprochen, es ging ihm anscheinend gut. Danach war es relativ schnell gegangen, die Gurte wurden durchtrennt, das Metall der Karosserie an einer Stelle mit schwerem Gerät geöffnet und sie alle nacheinander aus dem Wrack herausgeholt.
Erst jetzt setzte Inga ihren Gang im Zimmer wie in Zeitlupe fort. Als sie an den verwrungenen Blechhaufen auf der Autobahn dachte, rammte sie sich ihre Daumennägel in die Kuppen der Zeigefinger. Es tat alles so weh, aber sie selbst hatten ja Glück gehabt.
»So, jetzt rasiere ich vorsichtig die Haare an der Wunde etwas ab, damit wir sie gut und sauber kleben können.« Etwas knisterte, dann war es wieder still. Warum sie jetzt plötzlich überlaut jedes vergangene Detail hörte, war ihr unklar. Das war die Stimme des Arztes gewesen, der Marcs Platzwunde am Kopf geklebt hatte. »Jetzt bitte nicht bewegen.« Inga sah wieder ganz genau, wie er sich mit angespanntem Gesicht über Marcs Haaransatz beugte und die Wundränder zusammenpresste, damit sich nur eine ganz kleine Narbe bildete.
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