»Was habt Ihr?«, rief Merywyn und wich einen Schritt zurück. »Ist das Ding gefährlich … bösartig?« In seinen Augen glitzerte das Misstrauen, das wohl alle Männer des Nordens gegenüber Relikten aus der Zeit der Legenden hegten.
»Nein, nicht bösartig«, widersprach der Zauberer sofort und bemerkte, wie der Energiestrom der Berührung seinen ganzen Körper durchflutete und langsam verebbte … und in ihm neue Kraft hinterließ!
Er beugte sich wieder über die Schriftzeichen und glaubte nun ein weiteres deuten zu können, das sich seiner Entschlüsselung nur Augenblicke zuvor widersetzt hatte. Jetzt erschien es ihm wie ein Buchstabe der aktuellen Zauberersprache.
Wenn ich …
Behutsam bewegte er seine Tag-Hand an den Stein heran und hielt mit der Rechten die Fackel so, dass sich die Zeilen vor seinen Augen scharf abzeichneten. Als würden manche aus einem langen Schlaf erwachen, erschienen an verschiedenen Stellen des Textes einige Buchstaben, die in einem eigenen Licht schwach zu glimmen schienen. Mit einem raschen Blick auf die beiden Eiskrieger stellte er fest, dass sie vermutlich nur blanken Stein sahen. Denn weder Merywyn noch Baldouin reagierten so, wie er sich fühlte.
Die neue Kraft in ihm schien sich nach einer weiteren Verbindung zu sehnen, ihm zu versichern, dass ihm keine Gefahr drohte. Nur einen halben Finger breit schwebte seine Hand einen Moment über der Säule … dann berührte sein Fleisch den kalten Stein.
Als hätte er den Körper einer heißblütigen Geliebten berührt, strömte Wärme, angenehmes Locken in Finger, Handfläche und Arm und verteilte sich rasend schnell überall in ihm. Ceanags Augen verschleierten sich für die Dauer eines Wimpernschlages, obwohl er sie offen hielt und auch die Fackel zwar flackernd, aber zuverlässig Licht spendete. Der Zauberer war sich sicher, dass er den Schein nicht benötigt hätte, denn nun leuchteten alle Schriftzeichen in einem warmen Glanz.
Und er konnte jedes Einzelne davon lesen!
Dies wurde geschrieben von Alwarayn, Mitglied der Hohen Gilde des Ersten Volkes, Schöpfer der Waffe und Bewahrer des Wissens.
Alwarayn … Alwarayn, dachte Ceanag und kramte in seinem Gedächtnis nach diesem Namen, konnte sich aber nicht erinnern, jemals von diesem Zauberer gehört oder gelesen zu haben. Dann las er weiter und erkannte augenblicklich das Gedicht, welches er vor einigen Tagen den Eisleuten als Fragment vorgetragen hatte.
Ø
So schrecklich das Feuer,
geschleudert vom Himmel,
erweckt es die Flammen
aus den Schlünden der Hölle,
verbrennt es die Scheuer,
das Menschengewimmel,
so rasch wie der Wind,
hinterlässt nur noch Stille.
Ø
Die Ersten jedoch,
erfüllt von der Macht,
ergreifen die Waffe,
die gegen Draken gemacht,
vernichten die Bestien,
im ganzen Weltenrond,
versenken sie tief
bei silbernem Mond.
Ø
Sein Licht lässt er fallen
auf ewiges Eis,
dort liegt er bewacht,
der schreckliche Preis,
den jeder bezahlt
mit seinem Leib,
der nicht trotzen kann
dem ….
Ø
»Warum lest Ihr nicht weiter?«, rief Merywyn und machte damit klar, dass Ceanag die Worte nicht nur gelesen, sondern auch vernehmbar ausgesprochen hatte.
»Das letzte Wort fehlt … vielleicht auch zwei«, antwortete Ceanag enttäuscht und deutete auf die Stelle. »Es sieht mir aber nicht nach Absicht aus.«
Merywyn besah sich ebenfalls die Lücke. »Könnte gut und gern von einer Spitzhacke stammen«, urteilte er lapidar. »Es wundert mich eher, dass einer der ersten Eismänner hier nicht mehr Schäden verursacht hat.
»Wieso bezeichnet der Verfasser die Silberne Mutter als männlich?« Baldouin schüttelte seinen Kopf. »Der Goldene Vater ist das Oberhaupt der Götterfamilie und daher ein Mann.«
Ceanag löste sich nur schwer vom Anblick der Stele, die immer noch für seine Augen die alten Schriftzeichen leuchten ließ. Erst als er sich aufrichtete und dabei die körperliche Verbindung löste, verblassten die Zeichen langsam. Dann drehte er sich den beiden Eiskriegern zu und lächelte nachsichtig. »Die vielen Lichter am Himmel sind alle wie der Goldene Vater … es sind Sterne. Wir Zauberer nennen sie Sonnen. Sie stehen fest am Firmament und die Welten drehen sich um sie.«
»Unmöglich, Zauberer!«, stieß Baldouin hervor. »Wir sehen doch jeden Tag, wie der Goldene Vater aus dem Meer steigt und abends wieder in ihm versinkt.«
»Genau«, bestätigte Merywyn. »Und die Silberne Mutter …«
»Ist ein Mond, ein Begleiter unserer Welt. Andere Welten haben mehr als einen oder zwei Monde«, versuchte Ceanag ihnen die wirklichen Verhältnisse am Himmel klarzumachen, sah aber sofort ein, dass sie ihr angestammtes Weltbild nicht so einfach fallen lassen würden, nur weil er und das Gedicht eines längst vergangenen Zauberers etwas anderes behaupteten.
Ceanag – und alle noch lebenden Vertreter seines Volkes – verstanden die erste Strophe des Gedichtes. Es war eine kosmische Katastrophe gewesen, die einen der kleineren Monde des Systems den Völkern Driftworlds als Der Rote bekannt mit seinem Bruder, dem Grauen, kollidieren und auf die Welt stürzen ließ. Dabei musste die ganze Welt ein Flammenmeer, riesige Überschwemmungen und Vulkanausbrüche erlitten haben, die fast alles Leben vernichtet hatten.
Dafür war die zweite Strophe für Ceanag umso rätselhafter. Welche Macht hatte seine Ahnen erfüllt? Von den Schrecken, welche die Draken über die Welt gebracht hatten, sprachen die Legenden sehr deutlich, von ihren Reitern aber nur andeutungsweise. Er als Zauberer wusste aber um die Natur der Drakenreiter. Und das Gedicht sagte kein Wort über sie …
Und wer wurde beim Licht des silbernen Mondes versenkt? Die Draken oder die Waffe? Diese vage Formulierung kam Ceanag schleierhaft vor. Gut, sein Volk war damals auf der ganzen Welt dasjenige mit den größten Errungenschaften gewesen. Wissen und Fähigkeiten hatte das Erste Volk besessen und praktiziert, welchen allen anderen Völkern Driftworlds wie blanke Zauberei erschienen waren … und es immer noch taten. Dabei war sich Ceanag bewusst, dass er selbst nur jämmerliche Reste dieses Wissens nutzen und anwenden konnte.
Die letzte Strophe war auf den ersten Blick die einfachste. Sprach sie doch von ewigem Eis. Und auf Driftworld gab es nur zwei Orte, die dafür in Frage kamen: der Nord- und der Südpol. Leider waren beide eben an den entgegengesetzten Enden der Welt … und jeder allein schon größer als das Königreich Quorr. Die beiden letzten Sätze waren eine klare Warnung. Jeder war des Todes, der sich nicht gegen den Bewacher wehren konnte.
Ceanag wandte sich wieder der Säule zu und ahnte, dass er es herausfinden würde … auf die eine oder andere Weise.
Aber nicht im Norden, grübelte er. Die Eismänner graben hier schon seit vielen Generationen. Es wäre verwunderlich, wenn sie die Waffe und dessen Beschützer nicht längst entdeckt hätten. Entweder hat Alwarayn vielleicht auch die gesamte Hohe Gilde verfügt, dass die Waffe nicht hier im Norden versteckt werden soll. Oder …
Er richtete sich auf und sah die beiden Eismänner mit einem Blick voller Vorahnungen an.
»Ich muss an den Südpol … und Ihr mit mir.«
Das Reptil glitt durch das Gras des Schlossparks von Quorr und hatte keine Mühe, darin unbemerkt zu bleiben. Denn dem aktuellen Geschmack entsprechend, ließen die Gärtner das Grün und erwünschte Pflanzen kniehoch wachsen. Sie entfernten nur Gewächse, die mit ihren Kletten oder Dornen einem sorglosen Spaziergang von Bewohnern des Schlosses abträglich gewesen wären. Doch jetzt, kurz vor Mittnacht, stand weder König Rhazor noch seinen Höflingen der Sinn danach.
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