»Herr Zwerg«, rief der Tyrann. »Meine Laune bedarf der Aufheiterung. Belustigt mich! Und zwar ordentlich.«
Der Iruti verbeugte sich und begann ein allgemein bekanntes Spottlied zu singen. Den Text verwandelte er aber soweit, dass er den ehemaligen Knochenanführer Sador darin einsetzte und dessen Fehler in witzigen Zweideutigkeiten verwendete. Nach nur einer Strophe lachte der anwesende Hofstaat, nach der vierten auch der König. Lediglich der Mann mit den unheimlichen Augen blieb gefühllos und beobachtete jede Lippenbewegung des Zwerges.
Ceanag stapfte nun seit Stunden mit seinen beiden Begleitern durch eiskalte Stollen und Schächte. Zusätzlich zu seiner Kleidung hatte man ihm einen dicken Mantel und noch dickere Überschuhe ausgehändigt, die aus dem Fell von Wollbären gefertigt waren. Der Zauberer war sich aber sicher, dass er dennoch längst Erfrierungen erlitten hätte, hätte er sich nicht eines kleinen Tricks bedient, der wenigstens seine Hände und Füße – unabhängig vom stofflichen Schutz erwärmte. Als Südländer war er solche Temperaturen einfach nicht gewohnt.
Die beiden Eismänner schienen keine Zauberei zu benötigen, um sich wohlzufühlen. Wobei wohlfühlen auch nicht das war, was sie, tief unter der Erde, umgeben von altem Eis und noch älterem Fels, als Antwort auf eine entsprechende Frage angegeben hätten. Sie hatten ihn in die Mitte genommen, obwohl er die Karte dieses alten Stollensystems trug, die ihm Fellobain ausgehändigt hatte und dessen ältesten Abschnitt sie hoffentlich bald erreichen würden. Noch immer hatte Ceanag den Speiseraum vom Vorabend und seine Gastgeber vor Augen.
»Was also können wir Eismänner für Euch tun, Zauberer Ceanag?«, hatte Fellobain ihn spät am Abend des Begrüßungsmahles gefragt.
»Zugang in jede Eurer Minen, Vorsteher. Und wenn Ihr so etwas wie eine Karte besitzt: eine Abschrift davon, wenn möglich. Es dürften ziemlich viele Stollen und Abzweigungen existieren, nach all der Zeit.«
Fellobain hatte genickt und sogleich eine dicke Rolle aus seinem Umhang hervorgeholt. Er schien also schon geahnt zu haben, dass sein geheimnisvoller Besucher nach so etwas fragen würde. Andererseits war am Nordpol wenig Interessanteres zu finden, als eben eine detaillierte Karte der Minen.
»Ich möchte Euch auch etwas fragen, Meister Fellobain«, hatte er an diesem Abend angefügt. »Obwohl ich mir wünschen würde, Ihr hättet es – wenn meine Hoffnung mich nicht täuscht – von selbst erwähnt: Ist Euch oder Euren Vorgängern bei Eurer Arbeit etwas aufgefallen, was nach Menschenwerk aussah?«
Fellobain hatte freundlich, aber mit einem abwartenden Lächeln reagiert, dabei die Karte in seiner Hand hin und her gerollt und ihn dann ernst angeblickt.
»Ich wäre nicht zum wiederholten Male zum Vorsteher der Eismänner gewählt worden, wenn ich nicht auch ein guter Geschäftsmann wäre, Zauberer. Und um Eure dringendste Frage zu beantworten: Ja, einer meiner Vorgänger hat etwas entdeckt, was man eigentlich nicht tief unter Tonnen von Eis erwarten würde.«
Ceanag war Menschenkenner genug, um sogleich verstanden zu haben, dass Fellobain mit dem Fund nichts anzufangen gewusst hatte und es wohl in seinen Augen nur einem Zauberer gelingen würde, hier Aufklärung zu erlangen.
»Was birgt also der Nordpol für ein Geheimnis? Eurer Gelassenheit entnehme ich, dass Eure Neugier längst erloschen ist. Meine fängt gerade an sich zu erwärmen«, hatte er entspannter geantwortet, als er sich in Wahrheit gefühlt hatte.
»Nicht so schnell, mein Freund«, hatte Francassa sich in diesem Moment eingemischt und breit gegrinst. »Meister Fellobain möchte Euch ein Geschäft vorschlagen, nicht wahr?«
Der Minenvorsteher hatte die Kartenrolle bedächtig vor sich auf den Tisch gelegt und Ceanag ernst angesehen. »Ich teile Eure Befürchtung, dass die Quorr hier auftauchen werden … in großer Zahl und nicht nur mit der Absicht, einen neuen Handel zu tätigen. Sie werden mit vielen Knochenkriegern kommen … und wir werden uns wehren!«
Ceanag hatte genickt. »Dann wäre es sehr weise, sich so rasch als möglich auf den Angriff vorzubereiten, Minenvorsteher. Ich …«
»Ja, Ihr , Ceanag«, war er von Fellobain unterbrochen worden. » Ihr werdet uns beistehen in diesem Kampf! Allein, oder wenn möglich, zusammen mit anderen Zauberern. Der erste Schritt, Quorr Einhalt zu gebieten, ist es, ihm die Quelle für neue Waffen und andere Ausrüstung zu verschließen!« Fellobains Gesicht hatte in diesem Moment jegliche Freundlichkeit verloren gehabt und stattdessen echte Sorge … und Hoffnung gezeigt. »Alle freien Völker sollten sich zusammenschließen und Quorr die Stirn bieten. So ein Bündnis hätte meiner Meinung nach längst geschlossen werden sollen. Doch niemand scheint hier den ersten Schritt tun zu wollen. Jeder Clan hofft darauf, dass es einen anderen trifft und nicht ihn selbst.« Er hatte bedauernd seinen Kopf geschüttelt. »Wie auch immer: Ihr erhaltet diese Karte und die beiden Krieger als Begleitschutz, wenn Ihr uns versprecht, an unserer Seite zu bleiben, bis wir die Quorr abgewehrt haben.«
Und dann war es Ceanag gewesen, der seine Gastgeber verblüfft hatte. »Ich hätte Euch auch beigestanden, wenn Ihr keine Karte oder dieses geheimnisvolle Objekt als Wert hättet anbieten können. Wir Zauberer sehen es nicht gerne, wenn Menschen unterjocht und aus Machtgier getötet werden. Dies war der Grund, warum meine Ahnen die Draken bekämpft und vernichtet haben.«
Als der Krieger Merywyn unvermittelt stehen blieb und Ceanag beinahe auf ihn geprallt wäre, verblasste die Erinnerung an den Abend. Der Zauberer ging an dem großen Eismann vorbei und folgte mit den Augen dem ausgestreckten Finger dessen Freundes Baldouin. Der Anblick, der sich Ceanag offenbarte, ließ ihn hoffen, dass er der richtigen Spur folgte.
Am Ende des Stollens beleuchtet nur durch den Schein ihrer Fackeln ragte ein breiter steinerner Sockel etwa eine Handbreit aus dem Boden, der eine einfache Säule trug. Sie war vielleicht einen Kopf größer als die Männer, dafür aber so dünn wie ein junger Mann. Und rings um sie herum liefen Zeilen, deren Buchstaben tief in sie eingemeißelt waren.
Der Zauberer trat langsam näher an die Säule heran. Ceanags Hände zitterten, als er die Stele betrachtete und die Schriftzeichen im Licht der unsteten Fackel zu lesen versuchte.
Das ist die Alte Sprache meiner Ahnen, staunte er ehrfürchtig und war gleichzeitig frustriert, weil er genau wusste, dass sein Wissen darüber nur bruchstückhaft war.
Und selbst diese Bezeichnung trifft es nicht richtig.
Ceanag spürte, dass sich hier die Lösung eines Rätsels befand. Er rückte mit seiner Fackel näher an das Artefakt heran und ließ seinen Blick über die tiefen Einkerbungen der uralten Buchstaben schweifen. Einzelne Zeichen erkannte er wohl, aber nur sehr wenige.
Selbst die Schrift hat sich seitdem verändert, grübelte er und stellte in einer Ecke seines Verstandes fest, dass er auf diese Weise den Text nicht würde lesen können. Von zweihundert Worten kann ich vielleicht eines entziffern. Er umrundete die Säule und gelangte kurz darauf wieder an dem Punkt an, an dem er seine Betrachtung gestartet hatte.
»Und?«, fragte ihn Baldouin und regte sich mit seltsamen Bewegungen. Ganz offensichtlich fühlte er sich an diesem Ort unbehaglich. »Könnt Ihr das Zeug lesen?«
»Nein … nicht auf Anhieb, Eismann. Aber diese Säule ist genau die Art von Hinweis, die ich zu finden hoffte«, antwortete Ceanag und deutete auf die Schrift. »Nun, ich hatte nicht unbedingt an ein steinernes Artefakt gedacht … es gibt viele Wege, Nachrichten über lange Zeiträume aufzubewahren …« Mehr zufällig, als bewusst, berührte er mit einigen Fingern die Säule und ein heftiger Energiestrom ließ ihn im Reflex die Hand zurückreißen.
Читать дальше