Vielleicht ein wenig voreilig, mein Guter, dachte Surrio und hatte das Bild von lediglich drei Frachtern im Hafen vor Augen. Und dass deren militärische Begleitung wohl nun auf dem Grund des Meeres liegen dürfte.
Entgegen des ebenfalls üblichen Jubels ertönte von mehreren Stellen in der Menge Getuschel. Der Seneschall holte schon Luft, um den Lakaien für alle vernehmlich das Öffnen des Tores zu befehlen, brachte aber keinen Ton über seine Lippen, als die Hochrufe ausblieben.
Offensichtlich hat sich das vermutliche Schicksal der Kriegsschiffe schon herumgesprochen, wunderte sich der Gestaltwandler. Nichts ist schneller als schlechte Nachrichten … selbst bei Nacht.
Der Seneschall schien allerdings nicht die Gerüchte des Hofstaates zu teilen, denn er hob seinen Stab und die Diener öffneten endlich die große Tür. Mit nicht wenig Anstrengung drückten sie die beiden massiven Flügel auseinander und gaben den Blick und Zugang in die große Halle frei.
Surrio schloss sich erst den Eintretenden an, als sich etwa fünfzig Personen in den Thronsaal begeben hatten. Sie verteilten sich nach links und rechts an die Längsseiten der Halle und gingen mit Schritten, denen die sonstige Sicherheit und Eile fehlte, an ihre vorgesehenen Positionen. Der Iruti konnte in mehr als einem Gesicht lesen – und mit seinen empathischen Sinnen auch spüren , dass die Gefühle des Hofstaates uneinheitlich waren. Von nüchterner Neutralität, vielleicht aber eher Ahnungslosigkeit, über brennende Neugier bis hin zu klarer Angst, war alles vertreten. Es dauerte ein wenig, bis sich die Menge vollständig eingefunden hatte, sich dem noch leeren Thron zuwandte und samt und sonders auf die Knie sank. Zwei Fanfarenstöße kündigten auf einen Wink des Seneschalls die Ankunft des Königs an, der im völligen Gegensatz zu seinem Hofstaat schier in die Halle eilte, statt mit fürstlicher Würde heranzuschreiten.
König Rhazor ließ sich merklich ungehalten auf seinem Thron nieder. Nur einen Moment verschwendete Surrio einen Gedanken daran, dass das eigentliche Sitzpolster von mehreren Schichten Leder umhüllt war und auf einem flachen Becken schwamm, das täglich mit frischem Wasser aufgefüllt wurde. Sobald sich der König darauf niederließ, wurde ein Teil des Wassers verdrängt und bot dem Monarchen einen äußerst bequemen und trotzdem stabilen Sitz. Der ganze Thron symbolisierte Die Feste Insel und die Macht seines Herrschers. Er sorgte für Stabilität auf einer schwimmenden Welt.
Der Gaukler sah in dessen Gesicht ebenfalls eine Mischung verschiedener Empfindungen sich widerspiegeln und die ersten Worte Rhazors ließen sofort erahnen, dass dieser Festtag sich anders gestalten würde als frühere. Dass er es war, der sich hier irrte, konnte Surrio aber nicht ahnen.
»Ich schätze es nicht, wenn mein Volk die mir gebührende Eile vermissen lässt«, begann er für seine Verhältnisse recht harmlos. Dass er es trotzdem todernst meinte, zeigte schon sein nächster Satz. »Sollte es noch einmal vorkommen, dass ich auf Euch warten muss, wird jeder Zehnte seinen Posten … und Kopf verlieren.« Als er die erschreckten Mienen der Leute sah, verschwand sein Ärger wie ein loses Blatt im Wind. Augenscheinlich wieder besänftigt, hob er lässig eine Hand und der Hofstaat erhob sich.
Der Seneschall trat am Tor zur Seite und schlug erneut mit seinem Stab auf den Boden. »Hauptmann Sador mit seinen Gefangenen«, kündigte er an und ließ einen Trupp Knochenkrieger an sich vorbeimarschieren. Deren Mienen waren mehr als finster und eine Welle von Brutalität und mühsam unterdrücktem Zorn wälzte sich wie ein Lavastrom in die Halle.
Surrio spürte auch Angst hindurchschimmern und zählte wieder 23 Halldir-Männer, angeführt und gefolgt von je zehn Knochenkriegern und ihrem Anführer. Als Sieger und Besiegte an ihm vorbeikamen, registrierte er erstaunt, dass die Angst nicht nur von den Halldir-Männern ausging.
Sador blieb das vorgeschriebene Dutzend Schritte vor seinem König stehen und hob die Tag-Hand zur Faust geballt zum Gruß.
»Mein Gebieter, mein König: Wie befohlen, bringe ich Euch alle Männer des Halldir-Clans, die nicht im Kampf gefallen sind. Dazu drei Schiffe voller Erz, Eisenbarren und allem Hab und Gut, was sie Euch vorenthalten wollten.«
Der Gestaltwandler schüttelte unmerklich den Kopf, ob dieser Verdrehung von Fakten.
Rhazor dagegen nickte und betrachtete die kleine Schar von Gefangenen. »Gut gemacht, Sador. Ist ihr Clan-Chef noch unter ihnen?«
»Nein, Herr, aber sein Sohn … Halldirian.« Auf einen kurzen Wink Sadors hin, stieß einer der Knochenkrieger es war sein Unterführer Marsa den jungen Mann nach vorn und trat ihm in die Kniekehlen, sodass dieser einknickte.
»Halldirian also …«, begann der König und musterte den Besiegten. »Dein Vater scheint nicht gewusst zu haben, dass ich ein gütiger Herrscher bin, Junge. Er ließ sich lieber töten, als sich mir zu unterwerfen. Ich hoffe, dass du nicht den gleichen Fehler begehst. Schwöre mir bedingungslose Gefolgschaft und die deines ganzen Clans, und ihr werdet am Leben bleiben.«
»Gütig?«, ächzte Halldirian verächtlich. »Ihr habt fast alle von uns abschlachten lassen. Wir folgen keinem Mörder!«, stieß der neue Clan-Chef der Händler und Schmiede hervor. Dann fügte er einen Satz an, der Surrio fast zur Säule erstarren ließ. »Und erst recht folgen wir keinem Menschenfresser!«
Menschenfresser! Das Wort hallte im Schädel des Iruti nach wie ein grausamer Schrei. Deswegen haben sie ihre Toten nicht begraben, weder an Land noch auf See!
König Rhazor nickte sogar bedächtig, anstatt den Vorwurf abzustreiten. Und offensichtlich war er plötzlich in Plauderlaune, denn zur Überraschung aller holte er weit aus.
»Die ersten Könige Nach Dem Fall waren nicht anders als ihr … arm, verzweifelt und schwach.« Er ließ völlig außer Acht, dass er für die Verzweiflung des Halldir-Clans – und vieler anderer auf Driftworld verantwortlich war. »Sie wollten ihr Volk vor dem Hungertod bewahren. Doch fast alles Land auf Driftworld stand in Flammen. Die Ernten waren verloren, die Vorräte vernichtet. Sie hatten nur wenige Schiffe, um auf Fischfang gehen zu können. Sie hatten noch nicht begriffen, dass das Meer ein anderes geworden war. Sie hatten noch nicht gelernt, wie man in tiefere Schichten des veränderten Wassers gelangen konnte«, zählte er auf. Rhazors Ausdruck schien von ehrlichem Bedauern erfüllt zu sein. »Also aßen sie ihre Verstorbenen … Verwandte, Freunde, selbst Kinder. Später aß man Verbrecher, Fremde und Feinde. Doch es war nicht genug, um alle Überlebenden Nach Dem Fall zu ernähren. Also fing irgendein König an, Kriegszüge zu unternehmen, um frisches Fleisch für das Volk von Quorr zu finden.«
Und damit den Grundstein für anhaltenden Mord und Kannibalismus zu legen, durchfuhr es Surrio mit Schrecken. Rhazors Vorfahren und auch er erkennen den Widerspruch nicht. Sie vernichten kostbares Leben, nur um anderes zu retten! Dabei übersehen sie, dass seit Dem Fall Tausende von Jahren vergangen sind. Die Meere sind voller Nahrung und selbst auf jeder noch so kleinen Insel lässt sich längst irgendetwas anbauen, um die Menschen satt werden zu lassen. Dass es dennoch hier und dort Hunger gibt, liegt an der Gier der Besitzer und den Machtverhältnissen.
Dann plötzlich verstand Surrio: Es schmeckt ihnen! Der Genuss von Menschenfleisch hat sie verändert. Allein in diesem Zusammenhang an Genuss zu denken, drehte ihm den Magen um. Sie wollen kein Gemüse und Obst anbauen. Sie lechzen nach Fleisch wie wilde Raubtiere!
»Und Ihr erwartet wirklich von uns, dass wir wie Ihr werden?«, keuchte Halldirian hervor und spuckte bis einen Schritt vor der ersten Stufe des schwimmenden Throns. Ein harter Schlag Sadors in seinen Nacken hinderte ihn daran, erneut auszuspucken.
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