Dann geschah etwas äußerst Seltsames.
Der Zwerg schlüpfte hastig aus seinen einfachen Kleidern und verharrte völlig nackt einen Moment lauschend in der Dunkelheit … und nahm flink die Gestalt eines großen Rattenjägers an!
Die Verwandlung hatte nicht länger als einen Wimpernschlag gedauert. Hätte ein Mensch Surrio beobachten können, hätte er sich gewundert, wohin der Zwerg verschwunden sein könnte und woher auf einmal dieses Tier gekommen war. Längst hatten die Menschen vergessen, dass die wenigen Zwerge Wechselbälger waren. Und noch etwas anderes hatten sie vergessen …
Aber Surrio hatte mit seinen empathischen Sinnen und natürlich Ohren in die Nacht gelauscht und niemanden gehört. Die beiden Poller, die sein Versteck bildeten, waren größer als er in seiner menschlichen Gestalt war und warfen ausreichend Schatten. Dazu kam die Schwärze der Nacht. Seine Transformation hatte also niemand mitbekommen.
Der Körper des Rattenjägers, den er angenommen hatte, erreichte im Durchschnitt mit seinen Schultern etwa die Kniehöhe eines ausgewachsenen Mannes, hatte ein glattes Fell und einen Schädel, der nur aus Kiefern und Zähnen zu bestehen schien. Seine Anwesenheit rund um den Hafen würde niemanden wundern, war es doch das bevorzugte Jagdgebiet dieser Tiere. Da sie dazu noch sehr schlank waren, entsprach ihr Körpergewicht ziemlich gut dem eines normalgewichtigen Zwerges … und Gestaltwandlers. Lediglich in einer Ecke seines Verstandes dachte Surrio kurz an frühere Zeiten, in denen wohlhabende Iruti zur Dickleibigkeit geneigt hatten.
Diese Zeiten sind lange vorbei, dachte er einerseits betrübt, andererseits erleichtert. Ein dicker Iruti sah einfach wie ein Haufen Ponatoscheiße aus. Dann stieß er die wenigen Kleidungsstücke, die er natürlich nicht verwandeln konnte, mit der kräftigen Schnauze über die Kante des Kais und sah, wie sie sich vollsogen und langsam im trüben Wasser versanken.
Surrio wusste nicht, was es war, aber aus einem Impuls oder Instinkt heraus schlug er weder den Weg in sein Quartier ein, noch folgte er den Kriegern und ihren Gefangenen. Stattdessen hielt er sich im Schatten der Gebäude und Hofmauern und gelangte schließlich an den Rand der Stadt. Das Licht der Silbernen Mutter wechselte durch einige Wolken seine Leuchtkraft und ganz weit im Osten zeigte sich die Ahnung des kommenden Morgens. Mehr oder weniger ziellos streifte Surrio am Rande der Stadt Quorr umher und hätte nicht sagen können, was ihn hierhertrieb. Als sich die Späte Nacht ihrem Ende näherte und ein deutlicher heller Streifen den Frühen Tag ankündigte, blieb er im Dämmerlicht stehen und blickte auf die Felder, welche direkt an die letzten Häuser anschlossen. Bilder von anderen Städten und Völkern erschienen unverhofft vor seinem inneren Auge und eine Frage schlich sich wie ein Dieb an die Oberfläche seines Bewusstseins:
Wo haben die Quorr ihre Friedhöfe? Wo und wie bestatten sie ihre Toten? Die meisten Handels-Clans und Seevölker, selbst auf größeren Inseln, pflegten ihre Toten im Meer zu bestatten. Sie hatten schlichtweg zu wenig Land, um es mit Begräbnisstätten zu vergeuden. Doch die Bewohner Der Festen Insel – wie auch die Eismänner des Nordens und Südens – mussten sich nicht der Mühe unterziehen, ihre Verstorbenen aufs Meer hinauszubringen, dort eine Lücke in der dicken Schicht zu schaffen und endlich die Toten in die Tiefe zu entlassen. Im Gegenteil: Die sich zersetzenden Leichen dienten – zumindest bei den Eisleuten – als wertvoller Dünger. Der Gedanke, dass ein Verstorbener nicht einfach verschwand, sondern als Teil pflanzlichen Lebens die Bedürfnisse seiner Nachkommen unterstützte, spendete vielen Hinterbliebenen ein wenig Trost.
Ein unerwarteter Schauer durchfuhr den Körper des Rattenjägers und ließ seine Flanken erzittern. Dann stieg ihm der Hauch eines seltsamen Geruches in die empfindliche Nase. Mit dem Kopf und der Schnauze dicht über dem Boden, trottete Surrio einen Weg entlang, der an steinfreien Stellen Spuren von tief eingegrabenen Wagenrädern aufwies. Als hätte jemand unsichtbare Wegweiser aufgestellt, folgte Surrio der Fährte und wurde von Augenblick zu Augenblick immer schneller. Als der Goldene Vater seine ersten Strahlen über die Kuppe eines mittelgroßen Hügels warf, gelangte Surrio dorthin, wo der Geruch am stärksten war.
Die Silberne Mutter verblasste zusehends und würde verschwunden sein, noch bevor der Goldene Vater die Herrschaft am Himmel gänzlich übernehmen würde. In diesem Moment sah Surrio ein Bild, das er unbewusst befürchtet, aber so nicht erwartet hatte.
Tausende Knochen lagen in wirren Haufen übereinander. Eine Mulde zwischen dem Hügel, auf dem er stand und seinem nördlichen Gegenstück war vollends damit ausgefüllt. Surrio suchte nach Schädeln oder anderen markanten Knochen, die ihm verraten hätten, um welche Lebewesen es sich handeln könnte. Als er auf Anhieb keine entdecken konnte, atmete er innerlich auf. Doch dann sah er im zunehmenden Licht des Frühen Tages doch den einen oder anderen Schädel.
Menschliche Schädel.
Sie bestatten ihre Toten nicht? Sie werfen sie einfach auf einen Haufen? Mitten unter die Überreste von Ponatos und anderem Schlachtvieh? Der Gedanke an Verschwendung wertvollen Düngers flammte in ihm auf und verschwand ebenso rasch wieder. Die einen finden Trost im Nutzen ihrer Ahnen, die anderen schütteln sich davor, etwas zu essen, das aus ihnen entstanden ist. Aber niemand lässt sie einfach verrotten!
Der verwandelte Zwerg hob seinen Tierschädel und lauschte in den Morgen. Seine Ohren registrierten das leise Rascheln der Blätter an den wenigen Bäumen, welche die Mulde säumten, das Flattern von Vögeln, die sich auf den Weg zu ihren Futterplätzen machten und den Schrei eines weit entfernten Tieres. Mit vorsichtigen Schritten lief er auf leisen Pfoten an den Rand des Knochenhaufens, hielt dort an und besah sie sich genauer. Der Geruch war zwar ein wenig stärker geworden, aber in seiner menschlichen Form wäre er Surrio wohl entgangen. Die Knochen lagen sauber, aber unregelmäßig vor ihm. Dann stutzte er und sah noch einmal auf ein Bündel, das nichts anderes sein konnte als Rippenknochen. Darunter lagen viele kleine Knochen … wie von Kindern … oder Zwergen!
Wie lange liegen die hier schon? Entweder wurden in letzter Zeit … seit langer Zeit keine neuen Leichen hier abgelegt oder allerlei Getier hat schon lange sein Mahl beendet … Und dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke: Sie werden doch nicht …?
Mit einem Mal schien er Stimmen zu hören und ruckartig schnellte sein Tierschädel erneut in die Höhe. Doch keiner seiner animalischen Sinne meldete eine Gefahr. Trotzdem glaubte Surrio menschliche Laute zu hören, die ihn mit unterschiedlichen Stimmen zu warnen schienen.
Wenn ich mich wieder in meine eigene Gestalt verwandle, grübelte Surrio, verliere ich sicher diese Stimmen … und bin nackt und mit zwei Beinen langsamer als mit diesen flinken Pfoten.
Dann stellte er seine Ohren auf und versuchte eine Quelle, eine Richtung auszumachen, aus der die Stimmen ihm unverständliche Worte zuraunten.
Die Toten flüstern zu mir … w eit entfernt. Aber die Nacht ist noch jung und diese Füße tragen schnell.
Als hätte ein Jagdhund die Spur seiner Beute aufgenommen, fegte der Rattenfänger durch den erwachenden Tag. Die bald aufkommende Hitze des Tages würde selbst ihm Schwierigkeiten bereiten, trotz des drahtigen Körpers, den er angenommen hatte. Also hetzte Surrio zwei Stunden in dieser Gestalt über Die Feste Insel , immer die unheimlichen Stimmen in den Ohren. Dann gelangte er unvermittelt an eine steinerne Mauer, die ihm den Weg versperrte.
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