- Markt der Imbiß-Möglichkeiten, frischgepreßte Säfte, aber nur gegen bar, warum keine Spende wie bei der Garderobe? Ich habe doch schließlich Eintritt bezahlt, ich zahle ja schließlich auch Kirchensteuer, ich zahl ja sogar als Mitarbeiter einer öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt den vollen Rundfunkgebührensatz; ich sehe nicht schwarz, ich fahre nicht schwarz, ich erschleiche mir keine Landjugendsäfte, schon gar nicht frisch gepreßt, sondern kauf mir statt dessen im Innenhof einen Bio-Apfel-Holunder-Mix und eine Bio-Bratwurst zuvor. – Ein freundlicher Mann von der "Bruderhilfe" teilt kostenlos knallgelbe Stoffbeutel aus mit Bruderversicherungs-Infopaket, ein Wahrzeichen dieses Kirchentags wie die amtlichen Bänder und Seidenschals als Bekenntnis zur Würde des Menschen.
Der Stand des "Bisexuellen Netzwerks" stellt alle möglichen Formen dar, und freilich nur als Kurvenbild. Überall Potemkinsche Nebengarderoben, Ausgänge hier, Ausgänge dort. Der Kirchentag der Notausgänge? Den richtigen endlich gefunden, ein Wachmann weist den weiteren Weg, das erinnert mich an die Friedrichstraße, man hält schon fast den Paß bereit. Die Uniformierten sind Pfadfinder, unerotische Pfadfinder, was sonst ja eher selten ist, auf Kirchentagen aber die Regel. Wachpersonal, Hilfspolizei, auch wenn das nun wirklich unfair ist; die opfern dort ihr Wochenende, die opfern den ganzen Kirchentag. – Zwei Mark, das muß eigentlich reichen, und nun ab und schnell runter zur Bahn, morgen muß ich um sieben schon raus, HuK, ökumenischer Arbeitskreis Homosexuelle und Kirche, Vortrag plus Diskussion ab zehn im Frankfurter Lessing-Gymnasium: "Sexualität und Moral begegnen einander – und wir sind dabei."
- Wir sind trotzdem dabei; raus bist du : so hätten's die "Strolche" gut sagen können, als diese mir im Herbst '68, zum Glück nur dieses eine Mal, in der Hardenbergstraße in die Quere kamen, und wir uns dann gegenseitig etwas dumm, doch ging das allein von mir jetzt aus; die werden mir nichts mehr tun, die Strolche, und dachten wohl sicherlich nicht mal daran, und ansonsten an "das" wohl nur selten.
Die Monate zwischen Landschulheim und dem Ende jenes Kurzschuljahrs... wie immer wir uns ertragen haben. Sprachen wir drüber? Es ist unwahrscheinlich, daß wir nicht darüber sprachen. Wie verhielt sich der als Rädelsführer – zu Unrecht? – beschuldigte Klaus? Keine Ahnung; die Zeit zwischen Showdown und Zelt, von der Hochzeitstragödie abgesehen, ist samt und sonders gelöscht. Nur soll ich da jetzt mit Friedrich Noskes Berliner SPD-Kollegen ein bloßes "und das ist auch gut so" sagen?...
Müde, erschöpft, und doch... ja, glücklich. Kirchentag... das ist, trotz allem, als ob man wieder Heimat hätte, und wenn nicht die Kirche, ihr Himmel, ihr Götter, was, zum Teufel, sonst ?...
IC bis Mannheim, dann ICE, nicht anders als bei den Saunafahrten. Ticket vom Touch-Screen-Automaten. Der ICE brechend voll; die Fahrt eine knappe halbe Stunde, da nehme ich gern einen Nichtraucherwagen, so viel Disziplin muß sein. – Ein Stehplatz im Gang. Pausenlos öffnet die Türautomatik, Schuld dieser hektischen Ehepaare, die ständig sich irgendwas rüberreichen, ungefähr mein Jahrgang wohl, vielleicht ein wenig älter, mit Harley-Davidson-Baseballkappen. Mit der Harley durch die Rockies, "Pur – Ihre größten Erfolge" im Ohr. – "Weiter vorn ist alles frei", sagt der freundliche Schaffner fünf Minuten vorm Ziel; lausige zwei Waggons weiter hinten, und ich hätte den Fahrschein auch morgen noch. Beim völlig legalen "Schwarzhändler" das Tagesticket geholt, schon gestern die richtige U-Bahn gesucht, da gibt es jetzt keine Probleme. Ob der da auch zum Gymnasium will? Der sieht eigentlich ziemlich schwul aus. Will er aber nicht. Kirchentagsstadtplan ausgebreitet. Links eine Schule, das muß es sein. – Wohl ganz normaler Schulbetrieb. Ein Hinweis am Schwarzen Brett: Das hier ist eine Realschule nur, und Homos haben Maturitas. – Das große Gebäude zur Rechten, mehr Möglichkeiten gibt es nicht. Ein hagerer Alter, den frage ich jetzt, und richtig, es ist ein Gleichgesinnter. Kein Eingang auf dieser Gebäudeseite. Wir schlagen uns ins Gebüsch. Wenn das einer sieht, der wohl weiß, was hier tagt, aber schlichtweg rein nichts über Homos? Außerdem muß das kein Homo sein, das kann auch ein Pfarrer, ein Vater sein, gewiß, auch dann könnt er Homo sein, er geht durch die Eiben, ich folge ihm, wir springen in den Schulhof rein – und sind endlich da, wo wir hinjewollt hann, um es, wie anfangs mit Wader schon, zusammenhanglos jetzt mit BAP zu sagen.
- "Welche moralischen Vorstellungen haben in unserer sexuellen Entwicklung eine Rolle gespielt?" Na, wenn das nicht meine Veranstaltung ist...
Gerade noch pünktlich. Am Eingang zur Aula die Deutschlandflagge und Fotos von Frankfurter Wehrmachtssoldaten, und freilich aus dem Widerstand. Textdokumente und Schülerstatements, es gab da wohl eine Diskussion bezüglich der Integrität der Geehrten. Die Decke im Bühnenraum schwarz und zerklüftet. Wie für eine Märchenaufführung, es erinnert mich eher an die Volksschule Ruhrstadt als an die Realschule Norddorf. Die Sparmaßnahmen sind unübersehbar. Der Aufgang zur Bühne eine Komposition aus Kisten und Paletten, da macht ein "Hals- und Beinbruch" Sinn. Vielleicht an die hundert Teilnehmer dort. Zwei Moderatoren in meinem Alter, aber nur einer von beiden schwul. Der Schwule ist locker und klärt das mit der "HuK", er fliegt noch heute Nacht in den Urlaub. – Ins bündnisgrüne Bärencamp? Daß man immer gleich so was denkt...
Zum Einstieg Grenzbereichs-Anekdoten, eine lesbisch-schwule WG, wo die Männer hinter Vorhängen Sperma mixten und die Frauen es sich dann injizierten; zwei Zwölfjährige, die versehentlich beim Lesen eines Pornohefts im Hinterhof eines Supermarktes eben diesen niederbrannten, gewandelte Sexualmoral, gewandelte Normen und Werte. Dann zwei Experten aufs Podium, ein Sexkaufmann aus dem Szeneviertel, der ein Filmstudio nebst Vertrieb betreibt, und eine Fachfrau von Pro Familia, die den Wandel der Moral bestätigt und zum Schutze der Minderjährigen mahnt. Das hab ich der Fachfrau vielleicht voraus: ich kenne die "Pro Familia"-Hefte von Anfang bis Ende der Siebziger, komplett archiviert von der Funkbücherei, ausnahmslos per Postvertrieb; würde die heute einer versenden, nur von der Postbanderole umhüllt: die kämen nie an, da käme nur der Staatsanwalt und mit diesem ein mobiles Einsatzkommando, zum Absender wie zum Empfänger.
Ein Mann im Maxirock schimpft die Statements des Pornoproduzenten Eigenwerbung. Der lächelt und achtet auf Volljährigkeit und auf ein Mindestmaß an... Menschlichkeit? – Warum den und nicht Sebastian Bleisch, der inzwischen wieder Norbert heißt, den Nachnamen seiner Ehefrau trägt und dessen bürgerliches Werk ich nicht kenne, sondern lediglich sein seit Jahren schon verbotenes cineastisches Oeuvre? – Der wollte vielleicht schon 2001 mit all dem nichts mehr zu schaffen haben. – Ein Realschul-Videokurs irgendwo in Mecklenburg; seine Jungs, so las ich's in der Pressedatenbank, besuchten ihn auch im Gefängnis fast täglich. Als Schriftsteller war er nach der Wende bei namhaften Häusern unter Vertrag; seit Bleisch (wieder?) als Historiker tätig und "dem Staatsanwalt heute noch dankbar" ist, führt die "Welt" Gespräche mit ihm und hat für seine Vergangenheit, ohne diese zu verschweigen, wohl alles Verständnis der Welt.
- Realschüler halt, keine Straßenkinder, keine zerrütteten Prügelfamilien, wie ja auch ich erst befürchtet hatte, als ich im Januar '93 allen Mut zusammennahm, das Einzelhandelsfachgeschäft am Rande der Innenstadt aufzusuchen. Noch am selben Abend einen Videorecorder, genauer, ein bloßes Abspielgerät, was hätt ich schon störungsfrei aufnehmen können mit Schwarzwälder Zimmerantennenempfang? Ich konnte mich nur über Reisepaß plus Meldeschein legitimieren; ich wollte keinen Personalausweis mit dem Stempel "Baden-Baden". – Jochen, sagen wir, Köster, akzeptierte meine Dokumente. Der Name erinnert an Jochen Klepper; an den erinnert in Baden-Baden sein römisch-katholischer Dichterkollege und wohl einziger Freund Reinhold Schneider, nach '45 vor allem im Ostblock als Pazifist hoch geehrt.
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