- Ein Todesfall in der Familie oder im Freundeskreis, eine lebensbedrohliche Krankheit, eine Festanstellung: ich rechnete mit dem Schlimmsten. Wäre ich Atheist, ja dann... Kaum, daß Bleisch in U-Haft saß, verschwanden seine Filme aus den Sexshopregalen; vereinzelte fand man bis etwa 2000 in Hamburg noch und in Schöneberg. Kaum, daß ich in der "Szene" war, suchte ich Jochen Kösters Shop sporadischer und sporadischer auf. Pornos hab ich im Pornokino und eh in jeder Hinsicht "satt"; was soll ich mir da noch Videos holen mit Kopierschutz und mit Ausleihfristen? Und überhaupt, dieser ganze Analverkehr... auch bei Bleisch so inakzeptabel, so widernatürlich wie in all den anderen Gay-Pornos auch, und Pornographie so oder so eine sexuelle Bankrotterklärung.
Ein lila HuK-Tuch-Veteran betonte noch einmal die Altersgrenze. Nur: was stand denn dann noch zur Diskussion ? Die Vereinbarkeit dieser oder jener Praktik mit der Menschenwürde des Anderen in einer gleichberechtigten, von Zärtlichkeit und Treue und Vertrauen geprägten Liebesbeziehung? Ein weiterer Veteran, ein Kölner, betonte das Recht auf erfüllten Sex auch für jene, die sich halt nicht binden können, wie es ihm vor Jahrzehnten schon ein römisch-katholischer Pater sagte. – Homosexualität als Schöpfungsvariante? "Schwul aus gutem Grund"? Vielleicht sollten sie's besser (und dann ganz allgemein) mit den Worten Jochen Kleppers sagen:
"Du läßt den einen durch Geschlechter von Kind zu Kindeskind bestehn. Den andern läßt du wie durch Wächter von allem abgetrennt vergehn. Durch Fülle und durch Einsamkeit machst du uns nur für dich bereit. – Auf Feldern, die sich fruchtbar wiegen, in kargem Halm auf armem Sand muß doch der gleiche Segen liegen: Du sätest sie mit deiner Hand. Und was du schickst, ob Glück, ob Angst, zeigt stets, wie du nach uns verlangst."
- Der Irrtum mit Französisch... wie sollte ich ahnen, daß die Alternative nicht Latein, sondern eine Freistunde war? Und so saß ich bei der Elite und sollte was lesen aus dem Französischbuch meines Nachbarn, nun ja, ein Lacherfolg, aber Häme fraglos nicht. Der Lehrer wollte meinen Vater sprechen, eine Lösung für dieses Problem zu finden; dem hab ich's freilich erst gar nicht gesagt, denn wo war hier – Stichwort Freistunde – jetzt wirklich ein Problem ? Und überhaupt, sie hätten es wissen müssen, ließen sie meine Schwester doch für ein Jahr oder so zur Realschule gehen, aus irgendeinem nichtigen Grund sie von dieser dann wieder runterzunehmen. Jahre später sah ich den Französischlehrer Schultag für Schultag im Reiseschulbus, er zu seinem Gymnasium, ich zu "meiner" Wirtschaftsschule, und sah zu Boden und schämte mich.
- Der Norden: Backstein, Holz, Granit; gerade Linie, klare Form. Weite. Moderne. Licht und Luft. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Niemals kostete es Überwindung, kurz vor halb acht bei Wind und bei Wetter in drangvollster Enge nach Norddorf zu fahren. Wirklich kein einziger Tag fällt mir ein, egal, ob nun wegen eines Unterrichtsfachs, eines Lehrers oder wegen eines Klassenkameraden. – Schwänzen? Der Gedanke kam gar nicht erst auf. Zwar gab es mal einen Streik, doch nur für ein neues Klassenzimmer, und die meisten Lehrer auf unserer Seite, vor allem unsere auch im Unterricht sehr resolute Englischlehrerin, die mir im Spätherbst '72 half, das Textblatt von "Demons and Wizards" zu übersetzen und mir schon damals attestierte, all meiner Flegelhaftigkeit zum Trotz sprachlich das Zeug zum Pfarrer zu haben und, als ich sie später mal in Norddorf traf, sehr erfreut war, daß ich's nun tatsächlich auch werden wollte. – Eigentlich war es fast schon zu harmonisch. Es war ja nun keine Reformschule etwa, auch wenn ich bis heute der Ansicht bin, daß zumindest unser Sportlehrer in der Achten, Bronzemedaillengewinner bei einem olympischen Schwimmwettbewerb bei den Spielen in Berlin, irgend so einen reformpädagogischen Ansatz wohl doch vertreten hat. Oder war's blanke Resignation? – Abgesehen von der Geschlechtertrennung ein Sportunterricht wie im Kinderladen. Der Lehrer schloß die Ballkammer auf, und es polterte und hüpfte in die relativ neue Turnhalle rein, er ließ ein paar Geräte richten und achtete auf die Matten, und wer wollte, machte seine Übungen oder vergnügte sich im Geräteraum. Ab und an ein Fußballspiel, und freilich: "nur" ein Spiel ; wir kickten auch mit Steinchen auf dem Pausenhof, und ärgerlich bloß, daß mein erstes Tor (von zweien, die ich jemals geschossen habe), als Abseitstor gewertet wurde; egal, auf dem Hof war ich besser.
- Und doch, ich schaffte den Salto vorwärts, mit Sprung vom kleinen Trampolin. Wer wollte, bekam eine Zwei, ich gab mich mit meiner Vier zufrieden, einem wirklich kleinlichen Abseitstor und dem Salto vom kleinen Trampolin.
Der Nachfolger des Olympioniken behielt den libertären Unterrichtsstil seines Vorgängers bei; der Lehrplan wurde ja eingehalten, doch was wurde da groß gefordert schon? Und so blieb es beim altbewährten System: den Sportlichen ihre Zwei, und blieben Böcke, Barren, Ringe, Reck unerreichbar oder unüberwindbar, in jedem Fall noch die Vier. Über diese Pflicht hinaus wollte er nur mit denen was tun, die das jetzt auch selber wollten (Himmel, wie sich das anhört!; nur krieg ich's besser einfach nicht hin); da ging ich doch lieber zur Schulsekretärin, die gab mir den Schlüssel zur Bibliothek, und las mal da und mal dort etwas an und zupfte am Schilf der Altbauwände. In einem Aufklärungsbuch fand ich die "mutuelle Onanie", welche – 1949 und anders als bei der solistischen – von den Eltern zu unterbinden war, als ob es sich von selbst verstünde, daß diese das überhaupt mitbekämen, geschweige denn überhaupt wollten ...
- Sex: nach Auskunft der Älteren in der Runddiskussion am Nachmittag in den meisten Familien das Tabuthema schlechthin. Der drahtige, glatzköpfige Architekt: der hat was für Körper und Geist getan, dem sah man die 70 nun wahrlich nicht an, und sicher auch schon die 40 nicht. Hätte man in der Jugendzeit hin und wieder auch etwas Sport getrieben... die Folge früher Fehlernährung ist es bei mir ja nun wirklich nicht; wann immer es ging, kamen Obst und Gemüse aus eigenem Anbau auf den Tisch, dazu noch die Früchte des Waldes, und täglich einen Gesundheitstrunk, Möhren- oder Apfelsaft frisch aus dem Entsafter, dazu noch ein Schuß Rote Bete.
- Heimat? In Wenden Haus und Garten und im Sommer dazu noch das Freibad; ansonsten war "Heimat" jenseits von Wenden, das weite, von Wind und Wetter geprägte, fast schon amerikanische Land von den Wendbergen bis zur Realschule hin – und Luftlinie gerade mal zehn Kilometer.
- 30. Oktober 1970; der Folgetag schulfrei im lutherischen Norden. Scherzhaft sagte der Klassenlehrer, er werde das überprüfen, ob wir denn auch zur Kirche waren. Für die meisten eh ein Pflichtgang jetzt im Rahmen des Konfirmandenunterrichts. Ich war schon ein Jahr überfällig und freilich noch so von Ruhrstadt geprägt, daß ich den Spruch lieber ernst nehmen wollte und folglich brav zur Kirche ging, allein und ohne weitere Absicht. Und doch in die große Landeskirche, nicht, wie eigentlich geplant, in die der "freien" Lutheraner ohne Bindung an den Staat; werkgerechte Puritaner, die auf dem Stuttgarter Kirchentag, dem mit den Salzbergen in der Stadt, Zuckertütchen verteilten.
Die Wendener Landeskirchengemeinde war 1970 gerade vakant; die (Lese?)Gottesdienste hielten zwei Laien, amtlich geprüft und Prädikanten genannt, ein freundlicher pensionierter Hauptschullehrer, der gab auch den Konfirmandenunterricht, und ein etwas entweltlichter Oberschüler. Ich hielt ein paar Reihen Abstand, zwei Mädchen aus meiner Klasse kamen ja auch aus dieser Gemeinde, begrüßen kann man sich auch nach der Kirche. – Gott, ein Tausend-Seelen-Dorf, und ich nun also Vorkonfirmand. Die Hauptschüler unerwartet aggressiv; da wurde manch böse Erinnerung wach.
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