- Die surrende Philips-Elektroorgel des pensionierten Lehrers. Die Pfarrstelle wird im Herbst neu besetzt; der Pastor sei noch jünger. Weit und breit keine Menschenfreunde; ihr Gedankengut kam jetzt per Post ins Haus, monatliche Postvertriebsstücke mit Postbanderole aus Frankfurt am Main.
Im Sommer '71 fragte mich meine Mutter, ob ich schon mal ein Mädchen geküßt, und zwar richtig, auf den Mund. Nun, weder richtig noch flüchtig, und Lisa-Maria schon gar nicht. Ihr Vater fuhr einen Opel Diplomat V8 und war einer der größten Bauern ringsum; auf solche Dinge zu achten, behielt ich bis Anfang der Neunziger bei.
Auf der Heimfahrt saßen wir stets vorne rechts, sie auf der ersten Bank, ich auf der zweiten, und standen auf Seiten der "Aktion Roter Punkt", einer Hannöverschen Bürgerbewegung für bürgernäheren Nahverkehr. "Alles Kommunisten!", schimpfte der Schulbusfahrer.
In Gemeinschaftskunde spielten wir Bundestagswahlen und interviewten im Rahmen des Deutschunterrichts Passanten zur Bonner Ostpolitik und den Norddorfer Samtgemeindedirektor zur besagten "Aktion Roter Punkt"; das war ja nun nicht meine Schuld, ausgerechnet in dieser Zeit 13, 14, 15, und überhaupt, es war mir doch mehr als nur recht, daß der Garten meine Eltern voll in Beschlag nahm, ich also meine Freiheit hatte und alle Besucher staunten und lobten, was da schon nach einem Jahr aus dieser Brache entstanden war. Und endlich auch Stiefmütterchen in allen Farben und nicht nur die gelben wie in Ruhrstadt.
Unser Kunst- und Werkkundelehrer, ein im Heideraum recht bekannter Maler und Bildhauer, hatte an der Tafel einen Schädel hinterlassen, eine Skizze nur und diese leicht – expressionistisch? - ; mir aber kam nichts Besseres in den Sinn, als "Lüders" drunterzuschreiben. Wilhelm Lüders, Rektor der Realschule Norddorf und nun unser Deutsch- und Klassenlehrer. Der kam ins Zimmer, sah zur Tafel und wollte wissen, wer das war. Rolf, der wohl Vernünftigste von uns allen, bekannte sich nach Minuten des Schweigens zu eben dieser meiner Tat. Der Rektor stutzte, sagte "Wisch das weg", und verließ sogleich den Klassenraum. Warum ging er wieder? Eine Freistunde wohl; keine Ahnung, und wen interessiert's? Es gab noch nicht mal Klassenkeile, und wäre doch mehr als verdient gewesen. Schon sein Vorgänger hatte mich ermahnt, die Anerkennung der anderen nicht dadurch gewinnen zu wollen, die Rolle des Klassenclowns einzunehmen. Lachen sie dich, dann haun sie dich nicht: in Norddorf so grundlos wie in Ruhrstadt zwecklos.
- Irgendwelche Einkäufe meiner Eltern in Norddorf. Ich hatte meine neuen Winterschuhe an; auf der Heimfahrt im Schulbus (und dieser kein Schülerbus, sondern ein Pendler-Entlastungsbus) grüßte mich Lisa-Maria und lobte mein neues Schuhwerk. – Lisa-Maria, trotz des Namens, soweit ich weiß, nicht katholisch; meine Mutter nahm's staunend zur Kenntnis, doch eher erfreut nun als besorgt. Ich aber mußte in der kommenden Woche erneut auf meine neuen Schuhe verweisen; Lisa-Maria fand das jetzt peinlich und ich dann letztlich auch.
- Egal, und auch hier: wen interessiert's? – War ja auch rasch vergessen dann; vergessen wohl auch das "Wochenend"-Heft, das sich der Fahrer an einem solchem lachend aufs große Lenkrad gelegt, die Straße mit einem für Norddeutschland nicht unerheblichen Gefälle und uns ein wenig bange doch. Heute würde man sagen: "cool"; damals hatte man Hot pants an.
- Lisa-Marias Schulbusbank... ein einziges Mal erlaubte sie's mir, diese Sitzbank mit ihr zu teilen (und kein einziges Mal einem anderen!); I never knew me a better time, and I guess I never will, um es mit Elton John zu sagen. Und wo wir gerade beim Thema sind, ein Westcoast-Hit von Stephen Stills vom Sommer '71: And if you can't be with the one you love, love the one you're with. – Love ?…
- Nennen wir ihn Paul. Er versuchte es mehrmals im Umkleideraum im Rahmen einer Rangelei; das erinnerte mich an Kamp-Lintfort, so daß es eine Weile brauchte, bis bei mir die Vernunft obsiegte und ich ihn endlich gewinnen ließ. Wir gingen auf die Toiletten; dort waren wir beide zögerlich. – Eine Woche später. Wieder "besiegt", wieder aufs Klo. – "...ob du schon Samen hast." – Das war mir neu, was er da jetzt tat, und erzeugte genau jenes gute Gefühl, das doch vor wenigen Wochen erst unterm Brausekopf sein "Comeback" feiern durfte. Aus einem mir nicht mehr bekannten Grunde hörte er mittendrin auf. Zu Hause setzte ich es fort, lehnte mich an den Klodeckel an und brach dabei eine Halterung ab. Den Deckel versehentlich fallengelassen, eine bessere Ausrede gab's nun mal nicht. Und obgleich es sich wiederholte: Pubertät als meine Pubertät – für meine Eltern gleichsam die BRD auf der DDR-Fernseh-Wetterkarte; bedrohlich, erschreckend, nicht in Worte zu fassen, aber wenigstens nicht vorhanden.
Es muß noch im Herbst 1970 gewesen sein, als mir auf der überfüllten morgendlichen Busfahrt zur Schule ein Bub aus Wenden auffiel, Gymnasiast; "ein schöner Knabe", dachte ich, und dachte es kurz vor oder kurz hinter der Haltestelle "Am Berge" im ersten etwas größeren Nachbardorf kurz hinter der "Wochenend"-Abzweigung mit dem nicht unerheblichen Gefälle.
Paul, zwei Mädels und ich. Die Wartezeit bis zum Schulbus durften wir in der Klasse verbringen; was hätten wir auch schon groß angestellt? Zwar ging mal die neue augenfreundliche Glasschiebetafel zu Bruch, das aber war ein bloßes Versehen und ich ohnehin nicht beteiligt dran. Nach einem Schaukampf warf mich Paul auf den Boden, zog mir wie üblich die Hose herunter, aber nicht die lange Unterhose, und griff vor den Augen der Mädels zu, die das alles sehr amüsierte. "Melken", wie er sagte, und es vor den Mädels dann doch nicht tat.
Ein Mitkonfirmand gefiel mir sehr, doch der ließ mich leider nicht ran. Über seine Unterhose bin ich nie hinausgekommen, und so auch auf dem Wendener Herbstmarkt nicht, wo er mir nach langem Betteln wenigstens einen Blick erlaubte, doch wie gesagt, nur auf den Slip, und außerdem nicht auf dem Marktgelände, sondern auf dem alten Friedhof, seit Sommer '71 der Dorfpark, mit großem, altem Eibenbestand, den üblichen Steinen zum Kriegergedenken, ein, zwei Reihen Soldatengräbern und dem Grab zweier russischer Zwangsarbeiter, die von ihrem Arbeitgeber im Frühjahr '45 ermordet wurden, einem Bauern, von den Besatzungstruppen für diese Tat zum Tode verurteilt, soweit man in Wenden zu dieser Sache denn überhaupt mal ein Wort verlor. Das alles war gestern und vorbei, und selbst die Veteranenverbände fügten sich dem Willen des neuen Pastors und ließen beim Gottesdienst am Volkstrauertag die Fahnen vor der Kirchentür und begnügten sich, wenn auch murrend, mit der Gedenkfeier bei den Soldatenkreuzen, und freilich, eine Gedenkfeier nur – und eben grad keine Heldenverehrung.
Abgesehen von den Herbstmarkttagen blieb der Dorfpark weitgehend ungenutzt und hieß weiterhin "Alter Friedhof", und Eiben verströmen Gifte, die Physis und Psyche schädigen können; vielleicht war ja nur ihre Eibe dran schuld, daß meine Tante so viele Gebrechen hatte, und das in jungen Jahren schon, und wer weiß, was mir alles die Wendener taten, und fast schon so, als verfolgten sie mich, bis Ende 2000 zum Greifen nah, direkt vor Küchen- und Wohnzimmerfenster.
- Wendener Herbstmarkt: Dieser klassische Open-Air-Duft von Bier und Bratwurst, Gras und Schweiß. C.C.R., Sweet Hitch-Hiker, Autoscooter-Rockmusik, gerade Linie, klare Form. Wenden: "mein kleines Kalifornien", wie ich später ins Tagebuch schrieb, obgleich C.C.R. eine Südstaatenband... – egal. – Die Mittelwellen-Hitparade aus Saarbrücken. Maggie May von Rod Stewart auf Platz eins, das "Klagelied" eines Schuljungen ob der ruchlosen reifen Frau, die ihn zum Sexobjekt degradierte, von der er aber dennoch nicht lassen kann, und das, wo doch die Saar-Hitparade vorzugsweise Hardrock spielte, sofern dieser irgendwie "progressiv", zum Beispiel Alice Coopers "Under my Wheels", der war später mein erstes Postermotiv. – "Atomic Rooster", auch so eine Band, und heute die "Atomic Kitten"-Girlies die Enkeltöchter dieses Ensembles? "You can make me whole again": im religiösen Kontext bedenklich, ist wohl aber ganz profan und klingt am Ende des Refrains nach Van Morrison, Take it where you find it, und das bei Morrison wohl kaum im Profanen, wobei ja nun gerade dieser Song, ja, gleichsam doch der "Soundtrack" jetzt, zumindest für alle, denen neun Minuten... – Obertitel: "Wavelength", im Auto Richtung Heidetal meine Standardcassette seit Jahren. – Andererseits stammt der Kitten-Song aus der Feder von Andy McCluskey; der schrieb für OMD vor Jahren "Walking on the Milky Way" und erkannte, daß sich dieser Geniestreich mit dem alten Ensemble nicht mehr steigern ließ. Und so schrieb und produzierte er "You can make me whole again"; man will halt noch immer ein wandelndes Rocklexikon sein...
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