„Was, ihr seid schon fertig? Das war’s oder was?“ Petersen machte einen ziemlich enttäuschten Eindruck. Der Leiter des Teams ging auf Petersen zu:
„Wir können hier nichts mehr machen. Wir müssen unsere Fundstücke im Labor untersuchen. Täterspuren haben wir hier ja nicht. An der Baggerstelle am Strand hat der Kollege nichts mehr gefunden. Hier im Sand allerdings haben wir noch eine verrostete Blechmarke gefunden. Du weißt ja, ich bin mit Prognosen immer vorsichtig, aber das könnte so ‘ne Blechmarke sein, wie sie Soldaten immer tragen und die Gewehrreste, da tippe ich auch auf 2. Weltkrieg. Beim Bund gab es, so glaube ich, nicht so ‘ne Gewehre. Alles Weitere wird dann in unserem Bericht stehen.“
Onno versprach, den Transport zum Anleger zu organisieren.
Petersen konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Also kein neuer Fall, sondern irgendein vermisster Soldat aus dem 2. Weltkrieg. Vielleicht könnte man seine Identität für die Angehörigen rauskriegen, aber das wär’s dann schon gewesen. Von hinten kam Onno auf ihn zu:
„Na, Lars, das war’s dann wohl, kein aufregender Mordfall. Ich sag ja, halt ‘ne Strandleiche aus dem Krieg.“
„Ist ja gut“, murmelte Petersen.
Missmutig stapfte er die Promenade entlang in Richtung Pudding. Auf dem unteren Teil der Promenade wurde für die neue Saison die Bungee-Anlage aufgebaut. Auf den gelben Bannern stand „Guido’s Bungee Jump and Fly“. Guido aus Hannover, der dieses Geschäft betrieb, war teilweise auch mal Gast im „Störtebeker“ gewesen. Petersen erinnerte sich, wie der Magister ihn als „Jumping Jack Flash“ vorstellte.
Kurz vorm „Strandkorb“ kam ihm doch glatt ein Angestellter der Gemeinde mit dem Fahrrad entgegen. Normalerweise hätte Petersen um diese Jahreszeit nichts gemacht oder nur „absteigen“ gerufen, aber jetzt musste er seinen Frust rauslassen, zumal gerade die Gemeinde ständig Fahrradkontrollen forderte.
„Na, können wir denn keine Verkehrsschilder lesen?“, raunzte Petersen den Gemeindeangestellten an, der mittlerweile von seinem Fahrrad abgestiegen war.
„Ich bin in Eile, Entschuldigung, aber ich muss zum Schwimmbad, da gibt es ein Problem bei der Renovierung“, stotterte der ertappte Verkehrssünder.
Petersen hatte sich jetzt wieder etwas beruhigt und ärgerte sich, den Mann überhaupt angehalten zu haben.
„Beim nächsten Mal gibt es ein Bußgeld, Tschüss“, gab er dem sichtlich erleichterten Mann mit auf den Weg. „Was bin ich nur für ein Weichei?“, grummelte Petersen in seinen 3-Tage-Bart.
Langsam bog er beim Café Pudding rechts in die Zedeliusstraße ein. Im Pizza- und Eisladen wurde sauber gemacht. Die bald beginnenden Osterferien warfen ihre Schatten voraus. Petersen entschloss sich kurz im Inselbuchladen vorbei zu schauen. In der hinteren Ecke des Ladens fand er Literatur über die Welt der Nordsee, Inselkrimis und sonstige maritime Literatur. Das Buch über den Untergang der Pamir, was hier angeboten wurde, war ihm bereits bekannt, auch das Werk über Seemachtpolitik im 20 Jhdt. hatte er gelesen. Im Bereich der „Seeräuberliteratur“ gab es ebenfalls nichts Aktuelles. Hier musste er immer auf dem neuesten Stand sein, um den Magister zu übertrumpfen. Es war ein leidenschaftlicher Wettstreit zwischen den beiden, um neue Erkenntnisse in der Seeräuberforschung. Hier ging es immer darum, aktuelle Publikationen der Seeräuberforschung zu kennen, um dann gegenüber dem Anderen aufzutrumpfen. Ins Auge fiel ihm im letzten Regal ein großer Band mit dem Titel „Bomben über Wangerooge“. Augenscheinlich handelte es sich hier um eine Abhandlung der Geschichte Wangerooges im 2. Weltkrieg. Obwohl das Buch einen stolzen Preis hatte, entschied er sich, den Band zu kaufen. Bewaffnet mit der Einkaufstüte aus dem Buchladen trat er wieder auf die Zedeliusstraße. Hinter ihm hörte er die Stimme des Bürgermeisters:
„Moin Herr Petersen, Polizisten interessieren sich auch für Literatur?“
Petersen meinte etwas Abschätziges in der Formulierung zu erkennen.
„Lieber Herr Bürgermeister, es gibt auch denkende Polizisten, man sollte es kaum glauben.“
Bürgermeister Depken berührte ihn an der Schulter seiner Uniformjacke:
„Nichts für ungut, Herr Petersen, ich wollte mich nicht über Sie lustig machen.“
„Geschenkt“, antwortete Petersen.
Er war mit Bürgermeister Depken das eine oder andere Mal im Fall Dunker aneinander geraten und wollte die Sache jetzt nicht eskalieren lassen.
Depken wollte aber augenscheinlich etwas Anderes.
„Sagen Sie mal, es gibt da wieder eine neue Leiche, haben meine Mitarbeiter erzählt? Müsste ich irgendwas wissen?“
Petersen spürte sofort, worauf Depken anspielte. Dieser hatte sich im Fall Dunker von Petersen schlecht informiert gefühlt. Er war augenscheinlich immer noch der Meinung, dass die Polizei den Bürgermeister ständig informieren müsse. Petersen teilte diese Ansicht nicht und war deshalb auch mit Depken in Streit geraten. Trotzdem wollte er jetzt den Ball flach halten.
„Keine Angst, nichts Aktuelles. Wir haben Skelettreste gefunden, wahrscheinlich aus dem Krieg. Wenn sich die Techniker und die Gerichtsmedizin das genauer angesehen haben, wissen wir mehr.“
„Da bin ich aber erleichtert. Jetzt, wo die Saison beginnt,
können wir keine Schreckensnachrichten gebrauchen. Wenn Sie mehr wissen, sagen Sie mir bitte Bescheid.“
Mit diesen Worten verabschiedete sich Depken. In Petersen machte sich ein wenig Ärger bemerkbar. Halblaut grummelte er:
„Von wegen, ich bin nicht dein Gemeindebüttel.“
Die nächsten zwei Tage war auf dem Revier des Wangerooger Polizeipostens „tote Hose“. Siebelts und Petersen machten Büroarbeit und kurze Streifengänge, um Flagge zu zeigen.
In seiner Freizeit vertiefte sich Petersen in die Welt des 2. Weltkrieges auf Wangerooge. Völlig überrascht war er von der Tatsache, welch überragende Rolle Wangerooge bei der Luftverteidigung des Deutschen Reiches gespielt hatte. Er sog die historischen Fakten quasi in sich hinein und vergaß die Welt um sich herum. Zwei Tage las er bis spät in die Nacht, wobei er sich zu einigen Sachverhalten Fragen notierte. Irgendwie kam es ihm vor wie in seiner Studentenzeit, in der er nächtelang Exzerpte von historischer Fachliteratur angefertigt hatte. Eigentlich wollte er mal Lehrer für Geschichte werden, doch sein Leben hatte einen anderen Verlauf genommen.
Nach dem Frühstück tranken Siebelts und Petersen noch einen Kaffee. Die letzten beiden Tage waren ruhig gewesen. Sie hatten ihre Ablage auf Vordermann gebracht und den monatlichen Polizeibericht für den Inselkurier geschrieben. Siebelts verabschiedete sich. Er hatte einen Untersuchungstermin beim Inselarzt Dr. Meyerdierks. Was Petersen jetzt beim Checken der Mails auf dem Bildschirm sah, elektrisierte ihn. Der Untersuchungsbericht der Gerichtsmedizin und der Kriminaltechnik über die Leichenreste war da. Gleich der erste Satz hatte es in sich. Die männliche Person war keines natürlichen Todes gestorben. Ein Schuss in den Kopf war die eindeutige Todesursache. Die Kugel stammte aus einem Gewehr der Marke Karabiner 98. Ein Selbstmord wurde ausgeschlossen, denn die Möglichkeit, dieses Gewehr bei der großen Länge des Laufes gegen sich selbst zu richten, hielt die Kriminaltechnik für unwahrscheinlich. Die Untersuchung der Knochenreste deutete auf einen jungen Mann hin im Alter von 16 bis 20 Jahren. Ein Abgleich mit der zentralen DNA-Analysedatei(DAD) wies keinen Treffer auf. Die verrostete Metallmarke hatte augenscheinlich keine drei Trennschlitze, wie das normal üblich war bei den Erkennungsmarken der deutschen Soldaten im 2. Weltkrieg. Es handelte sich hier genauer um eine eloxierte Alumarke mit einer Trennlinie. Was das zu bedeuten hatte, war den Technikern unklar. Die genaue Untersuchung der Beschriftung würde noch etwas Zeit in Anspruch nehmen. Petersen schnalzte mit der Zunge. Also doch keine Wasserleiche oder das Opfer eines Bombenabwurfs, sondern ein junger Mann, der schlichtweg erschossen worden war.
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