Er griff sich sofort das Diensttelefon und wählte die Nummer von Kommissar Wilbert in Wilhelmshaven. Dieser meldete sich auch prompt:
„Moin Kollege Petersen, Ihren Anruf habe ich schon erwartet. Sie haben gerade den Bericht gelesen und wittern natürlich einen neuen Mordfall.“
„So ist es ja auch nicht, dass ich ständig heiß auf Tötungsdelikte bin, aber wir halten doch mal fest, dass es sich um eine Tötung handelt und Mord verjährt ja nun nicht.“
„Nun mal halblang Petersen, es handelt sich um eine Sache aus dem 2. Weltkrieg, da machen wir jetzt kein Buhei drum. Im Krieg wurden Leute erschossen und Soldaten sowieso, das war ja nun nichts Ungewöhnliches. Ich möchte nicht, dass Sie da jetzt Ihre ganze Arbeitskraft binden und die Insel kirre machen. Was Sie versuchen können, ist, die Identität des Jungen rauszufinden. Ich geb‘ Ihnen zwei bis drei Wochen. Da kommt sowieso nichts bei rum und wir können immer sagen, dass wir uns bemüht haben. Haben wir uns verstanden, dies ist eine dienstliche Anweisung!“
Petersen schluckte. Er hätte noch sehr viele Fragen gehabt, hielt es aber taktisch für klüger, jetzt nichts mehr zu sagen, außer einem knappen „verstanden, Tschüss.“
Nach dem Telefonat stand er auf. Er musste seine innere Unruhe bändigen. Während er im Dienstzimmer auf und ab schritt, kam Siebelts von seinem Arztbesuch zurück.
„Ist was passiert? Was läufst du hier rum wie so ‘n Tiger im Käfig?“
Petersen drehte den Monitor in Richtung Siebelts.
„Der Bericht ist da. Lies mal!“
Angestrengt las Siebelts den Bericht, drehte dann den Monitor wieder zu Petersen.
„Na ja, ist halt ein Kriegstoter.“
Petersen berichtete in kurzen Worten von seinem Gespräch mit Wilbert, deutete aber noch nicht an, wie er die Sache einschätzte. Siebelts kräuselte seine Stirn:
„Du kannst sagen, was du willst, aber Wilbert hat Recht. Was sollen wir denn da noch machen? So ‘ne Identität rauszukriegen ist viel zu aufwändig, du kannst das ja mal versuchen, aber häng dich da bloß nicht so rein.“
Petersen verkniff sich jeglichen Kommentar. Er würde sich allein um die Sache kümmern müssen. Vielleicht aber konnte er noch einen Verbündeten finden und mit diesem Gedanken beschloss er, heute Abend dem „Störtebeker“ einen Besuch abzustatten. Da er noch viele Überstunden abzufeiern hatte, machte er früh Feierabend, zog sich um und ging in der „Düne 17“ eine Kleinigkeit essen. Die blonde Frau vom Flughafen war auch wieder da. Mit ihr wechselte er ein paar Worte.
„Du darfst mir gratulieren. Ich habe geheiratet. Ich konnte nicht mehr auf dich warten.“
Bei diesen Worten fing sie herzlich an zu lachen. Ihr Mann arbeitete auch am Flughafen und sie war mittlerweile nach Carolinensiel umgezogen. Zum Abschluss des Gesprächs umarmten sich beide und Petersen zahlte. Er machte dann noch eine kleine Runde über die Promenade. Die Positionslaternen der Schiffe waren deutlich zu erkennen und am Horizont blitzte das Feuer des Leuchtturms Helgoland. Er liebte diese Szenerie. Leise summte er das Lied von Hans Albers der Wind und das Meer sind meine Begleiter . Über die Anton-Günther-Straße bog er in die Friedrich-August-Straße ein. Am Ende der Straße sah er das grüne Jever-Schild einladend leuchten. Die Eingangstür der Kneipe war geöffnet und er hörte das Gelächter der Gäste. Die Würfel in den Knobelbechern knallten auf die Theke. Zum Glück war es noch recht früh. Das ein oder andere Mal hatte er den Magister verwarnen müssen, da Gäste aus dem gegenüberliegenden Haus sich über ruhestörenden Lärm beschwert hatten. In der Kneipe war das tägliche Feierabend-Knobeln in vollem Gange. Die Theke war vollbesetzt und die Anzahl der leeren Flaschen war bedrohlich groß. König Alkohol hatte schon das Regiment übernommen. Petersen wurde mit lautem Hallo begrüßt.
„Moin Sheriff, warst schon lange nicht mehr da“, sprach ihn der „Schwede“ an, der diesen Namen trug, weil er gerade beim Knobeln häufig die Redewendung „alter Schwede“ benutzte. Da die Theke besetzt war, platzierte Petersen sich neben den Spielautomaten auf die Verlobungsbank, wie die kleine Bank an der rechten Thekenseite genannt wurde. Auf dem Spielautomaten stand eine Glaskugel, die erleuchtet war. Ein grüner Schriftzug kreiste in der Kugel. Es war der Kultspruch des Magisters: „Wir sind hier nicht auf Sylt“. Petersen wartete gespannt darauf, mit welchem Spruch der Magister ihn begrüßen würde. Er spürte wie es in ihm arbeitete, dann kam es kurz und trocken:
„Wir begrüßen den Mann, dessen Lederjacke kein Spaß versteht.“
Der Magister fing grölend an zu lachen. Die Knobelrunde fixierte Petersens Lederjacke, die mindestens 20 Jahre alt war, speckig und abgewetzt. Petersen wartete bis das Lachen verstummte und konterte:
„Das kommt nicht von dir. Der Spruch kommt von Jan Delay. Ich sage nur Wacken heißt der Song.“
„Der Kandidat hat 24 Punkte, den alten Musikfreak kann man nicht täuschen“, und mit diesen Worten schob der Magister Petersen ein schön gezapftes Jever rüber, welches dieser in zwei Zügen leerte. Der Magister bediente die Knobelrunde. Auf der Empore waren keine Gäste. Man war also unter sich. Die Knobelbecher wurden besprochen, es wurde geschimpft, es wurde gelacht. Petersen begann sich wohlzufühlen. Lange war er nicht mehr hier gewesen, aber ab und zu brauchte er diese Atmosphäre. Da der Magister einen guten Riecher für musikalische Stimmungen hatte, legte er jetzt die CD von Jan Delay „Hammer und Michel“ auf. Als beim Song Wacken die entsprechende Zeile mit der Lederjacke, die keinen Spaß verstand, kam, klatschte die Knobelrunde Beifall. Die letzte Runde lief, einige von den Männern waren schon schwer angezählt. „Auf St. Pauli brennt noch Licht, da ist lange noch nicht Schicht “, dröhnte es jetzt aus den Boxen. Alle sangen mit. Der Magister öffnete die Flaschen für die letzte Runde. Schwungvoll warf er die Kronkorken der Bierflaschen unter die Kneipendecke. Direkt über der Theke hatte er einen Magneten angebracht, so dass eine Traube mit Kronkorken von der Decke hing. Als das Lied verstummte, lallte einer der Knobler, der schon bezahlt hatte:
„Schwarze BHs sollen fliegen.“
Der Magister und Petersen lachten sich die Tränen aus den Augen. Der trockene norddeutsche Humor hatte wieder zugeschlagen. Schwarze BHs und St. Pauli passten durchaus zueinander, fand Petersen. Langsam löste sich die Runde auf. Nur der Schwede blieb noch an der Theke sitzen. Petersen hielt es jetzt für angebracht sein Anliegen vorzubringen, obwohl der Alkoholpegel beim Magister ebenfalls einen Höchststand erreicht hatte. Er wollte es trotzdem versuchen:
„Mal eben was anderes, ich hab‘ gerade das Buch über Wangerooge im 2. Weltkrieg gelesen, dieser Autor Huntemann, lebt der eigentlich noch und wenn ja, wo?“
Der Magister brauchte nicht lange zu überlegen:
„Das ist ein pensionierter Lehrer von der Insel, der ist weit über 80, aber noch total fit im Kopf. Wie es ihm körperlich geht, weiß ich nicht, aber der lebt auf der Insel.“
„Der wohnt in der Robbenstraße“, mischte sich der Schwede ein, „gleich neben dem Kreativ-Café.“
„Warum willst du das eigentlich wissen?“, setzte der Magister neugierig nach, „willst du dein Geschichtsstudium wieder aufnehmen?“
Petersen machte eine abwehrende Handbewegung.
„Wir haben da doch Teile aus dem 2. Weltkrieg gefunden. Mich interessiert das, was hier in der Zeit so los war.“
„Da bist du bei Huntemann an der richtigen Adresse, der erzählt gern aus dieser Zeit. Du musst aber ein bisschen Geduld mitbringen, wenn der mal ins Erzählen kommt, hört der nicht mehr auf“, erläuterte der Schwede.
„Na ja, genauso wie bei dir“, kommentierte der Magister trocken.
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