Er hatte nichts dagegen. Im Gegenteil, er war froh darüber.
„So wird wenigstens wieder mal darauf gespielt“, sagte er.
Ich setzte mich und klappte den Deckel auf.
Es war ein besonders schönes Exemplar.
Mit den Fingern begann ich einige Tasten zu bewegen um zu hören, ob es gestimmt war, es klang fantastisch.
Ich begann mein Lieblingslied zu spielen.
UNCHAINED MELODY, von den Righteous Brothers.
Wenn man verliebt ist, dann ist das der beste Liebes- und Schmusesong, bei dem man ganz eng zusammen mit dem Liebsten tanzen kann.
Ich musste unweigerlich an Sam denken, denn genau als dieser Song damals gespielt wurde, forderte er mich zum tanzen auf. Diesen Moment werde ich niemals vergessen. Es war der Abend an dem wir uns ineinander verliebten.
Ich spielte also am Klavier und war ganz in meinen Gedanken versunken, so dass ich nicht bemerkte, wie jemand herein kam. Als der letzte Akkord verklungen war, öffnete ich die Augen und schloss den Deckel ganz sachte.
Im Lokal war es sehr leise geworden, keiner sprach, alle schauten zu mir. Auf einmal begannen sie zu klatschen.
Ich bedankte mich mit einem Kopfnicken und einer kurzen Verbeugung.
Dann erhob ich mich und wollte wieder gehen, da sah ich ihn.
Groß, wie immer schwarz gekleidet, tiefblaue Augen. John stand direkt in der Tür. Als sich unsere Blicke trafen, konnte ich mich keinen Zentimeter bewegen. Er kam auf mich zu und stellte sich genau vor mir. Ich sah in seine Augen und dann beugte er sich zu mir herunter und küsste mich.
Wie betäubt stand ich da.
Mein Herz flatterte und langsam legte ich die Arme um ihn. Dieses Gefühl war unbeschreiblich schön. Es hätte noch Stunden dauern können, doch dann hörte er auf, legte seine Hand unter mein Kinn und zwang mich so, ihn direkt anzusehen.
„Ich habe dich sehr vermisst, warum bist du ohne ein Wort verschwunden?“
Im ersten Moment wusste ich nicht, was ich sagen sollte, so perplex war ich. Hatte er alles vergessen oder tatsächlich keine Ahnung von dem, was geschehen war.
„Wie bitte?“
Inzwischen hatten wir das Lokal verlassen.
„Ich verstehe nicht ganz. Du hast mir in deinem Brief klar und deutlich mitgeteilt, was los ist, schon vergessen?“
„Was denn für einen Brief. Davon weiß ich nichts.“
Er war so überrascht darüber, das konnte nicht gespielt sein.
Diesen bewussten Brief hatte ich immer bei mir und so holte ich ihn heraus.
„Hier bitte, du kannst ihn gerne lesen.“
Er nahm den Brief und las ihn laut vor.
„Also, von mir ist der nicht. Offenbar hat sich jemand die Mühe gemacht, meine Handschrift gut zu kopieren. Ich habe dir diesen Brief nicht geschrieben, das würde ich auch nie tun. Wenn ich die Absicht gehabt hätte dich nicht mehr wieder zusehen, würde ich es dir persönlich sagen und es nicht auf diese Weise tun.“
„Das verstehe ich jetzt nicht, wenn du es nicht warst, wer dann? Gibt es hier vielleicht eine eifersüchtige Frau?“
„Nicht, dass ich wüsste, aber das werden wir gemeinsam herausfinden. Ich freue mich sehr, dass du wieder da bist und... du hast mir gefehlt.“
Als wäre es das Natürlichste von der Welt, nahm er mich in seine Arme und küsste mich, dabei war es ihm egal, ob uns jemand sah oder nicht.
Mein ganzer Körper spielte verrückt vor Glück, ich konnte das alles noch gar nicht fassen und war froh ihn wieder bei mir zu haben. Arm in Arm gingen wir die Straße entlang.
„Weißt du noch, wir wollten das letzte Mal noch etwas unternehmen. Wie wäre es, wenn wir das jetzt nachholen. Es ist noch hell und Maria rennt dir nicht weg, die kannst du auch später noch besuchen. Nun was ist?“
Natürlich war ich glücklich darüber, dass sich alles aufgeklärt hatte.
„Ja, sehr gerne, ich bin bereit dir zu folgen, wo immer du auch hingehst.“
Wir lachten und gingen Hand in Hand weiter.
Er zeigte mir den Rest des Ortes. Es gab eine kleine Bäckerei, ein Möbelgeschäft mit einer Tischlerei nebenan und dann einen Lebensmittelladen. In dem Gebäude, in dem Maria wohnte, hatte im Erdgeschoss ein Arzt seine Praxis. Anschließend machten wir uns auf zur Burg.
„Wenn du noch laufen kannst, machen wir noch eine Burgbesichtigung.“
Zwar taten mir schon ein wenig meine Füße weh, aber dass wollte ich mir nicht entgehen lassen.
„Das wäre toll, du musst wissen, ich liebe alte Schlösser und Burgen. Sie sind immer so schön unheimlich und geheimnisvoll.“
Also durchforsteten wir die ganze Burg, von oben bis unten.
Wir ließen so gut wie keinen Raum aus und ich war begeistert. Noch nie hatte ich so viele Zimmer auf einmal angesehen und jedes war anders eingerichtet. Noch dazu waren sie in einem sehr guten Zustand. An vielen Wänden hingen wunderschöne Gemälde. Vor allem das Kellergewölbe war interessant. Einige der Räume waren verschlossen und einige Gänge ließen wir auch aus. Dort war es zu dunkel. Da unten sah es sehr gruselig aus. Zum Schluss, war ich so fußlahm, dass ich kaum noch laufen konnte.
„Machen wir noch einen Abstecher zum Strand und schauen uns den Sonnenuntergang an. Der ist um diese Zeit besonders schön, du wirst begeistert sein und dabei kannst du dich erholen, einverstanden?“
Das kam mir sehr entgegen, spürte ich doch kaum noch meine Füße.
Ich nickte und los ging es.
Meine Wohnung war zwar in Edinburgh, doch so einen Sonnenuntergang sah ich noch nie. Er hatte nicht zu viel versprochen, es war wirklich beeindruckend, wie die Abendsonne am Horizont im Meer versank.
Das Rauschen der Wellen, dazu die Wärme, die von seinem Körper ausging, an den ich mich schmiegte. Alles war wie in einem sehr schönen Traum. Irgendwann muss ich dann auch vor Erschöpfung in seinen Armen eingeschlafen sein.
Als sich meine Augen wieder öffneten, lag ich in meinem Bett.
„Na, du Schlafmütze, wieder da?“
Er hatte den Kopf auf seinen Arm gestützt und sah mich an. „Bin ich etwa eingeschlafen?“
Ich überlegte, wie ich hierher gekommen war. So stark wie er war, hatte er mich bestimmt getragen. Danach wollte ich aber nicht fragen. Es war mir so schon peinlich genug, dabei hatte John sich doch solche Mühe gegeben, mir alles zu zeigen.
„Wie lange habe ich denn...?
„Nicht solange, nur etwa zwei Stunden.“
„Was! Das gibt’s doch nicht, das tut mir wirklich leid, bitte entschuldige.“
„Wofür? Es ist alles in Ordnung. Immerhin bist du seit heute früh schon auf den Beinen und dann schleppe ich dich noch überall mit hin. Du musst dich wirklich nicht entschuldigen. Außerdem war es sehr schön dich beim Schlafen zu beobachten.“
Darüber musste ich schmunzeln.
„Hoffentlich habe ich nicht geschnarcht.“
„Nein, nein, du hast geschlafen wie ein Baby, ganz ruhig und friedlich“
Ich fühlte mich so wohl in seiner Gegenwart, also rückte ich näher zu ihm heran und kuschelte mich an ihn. Es war ein Gefühl der Geborgenheit. Wir lagen eng aneinander, sagten kein Wort. Ganz zärtlich streichelte er mit seinen Händen über meinen Rücken, dann begannen wir uns leidenschaftlich zu küssen.
Noch nie hatte ich das Gefühl, so geküsst worden zu sein. Nicht einmal Sam hatte das geschafft. Es war... wow, einfach super.
Draußen, war es inzwischen ganz dunkel geworden. Wir verließen mein Zimmer und zusammen gingen wir hinüber um bei seiner Schwester vorbei zu schauen. Schließlich wurde es ja Zeit. Seit heute vormittag war ich schon hier und hatte noch kein einziges Wort mit Maria gewechselt. Bei meinem ersten Besuch in Dornie hatte sie mich warten lassen, heute war ich es. Hoffentlich war sie mir nicht böse.
Ich klopfte leise an ihre Tür und ging mit John im Schlepptau hinein.
Maria riss ihre Augen auf, dann kam sie auf mich zugestürmt. Ein Glück stand John hinter mir, sonst hätte ich wahrscheinlich die Balance verloren. Er fing mich so zu sagen auf.
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