Petersen hatte den Bahnhof erreicht. Wie häufig hatte er hier schon Anwärter abgeholt und immer hatte sich mit diesen jungen Kollegen eine besondere Geschichte verbunden. Neulich erreichte ihn eine Postkarte von seiner letzten Auszubildenden, Rieke Hinrichs. Sie war jetzt im Ausleseverfahren für das SEK in Hannover. Das Pfeifen der Lokomotive riss ihn aus seinen Gedanken und kündigte das Einfahren des Zuges an. Außer ihm standen nur zwei weitere Personen auf dem Bahnsteig, nicht zu vergleichen mit dem Gewimmel in der Hauptsaison. Mit einem leichten Quietschen der Bremsen kam der Zug zum Stehen. Nur wenige Personen stiegen aus. Ein großer blonder Mann mit schwarzer Brille, der einen Rollkoffer hinter sich herzog, steuerte direkt auf Petersen zu. Er sah jünger aus, als er gedacht hatte.
„Moin, Sie sind bestimmte Kollege Petersen, Klaus Erhardt mein Name.“
Sie schüttelten sich die Hände. Petersen, der sonst kein Freund des vorschnellen Duzens war, überwand sich. „Moin, willkommen auf der Insel, Lars mein Name. Wir sollten uns duzen, wenn es recht ist.“
„Ich bin Klaus, auf gute Zusammenarbeit. Kriminalrat Wilbert hat mir viel von dir erzählt. Ich bin gespannt auf unsere Zusammenarbeit.“
„Was der wohl erzählt hat?“, dachte Petersen, verzichtete aber auf jeglichen Kommentar. Erhardt wollte zuerst ohne Verzögerung zum Tatort, was in Petersens Augen ein gutes Zeichen war. Kurz stellten sie den Koffer im Revier ab. Petersen machte Erhardt mit Kollegin Wohlers bekannt. Als sie wieder los wollten, unterbrach Wohlers: „Da ist noch was, Lars, da war ein merkwürdiger Anruf. Jemand hat über der See ein helles Licht gesehen, eine Art Feuerball.“
Petersen stutzte und überlegte kurz. „Das könnte natürlich ein Signal aus einer Seenotsignalpistole sein. Ruf mal eben zur Sicherheit bei der Zentrale der DGzRS (Seenotretter) in Bremen an. Die Nummer hängt am Brett.“
Petersen bat Erhardt um einen Moment Geduld. Die Seenotleitung in Bremen bestätigte die Beobachtung. Über einhundert Anrufe, auch von Schiffen, waren aufgelaufen. Sogar die Seenotrettungsboote von Neuharlingersiel und Langeoog waren ausgelaufen. Nach Rücksprache mit dem Olbers-Planetarium in Bremen schlossen die Wachleiter der Seenotzentrale nicht aus, dass die Beobachter einen verglühenden Meteoriten gesehen hatten.
Erhardt hatte das Gespräch mit der Seenotleitung aufmerksam verfolgt. „Junge, Junge, sehr interessant, aber so ein Ding möchte ich nicht auf den Kopf bekommen.“
Petersen und Wohlers nickten.
Als Petersen und Erhardt in der Appartementanlage eintrafen, waren die Kriminaltechniker fast fertig und auch die Rechtsmedizin wartete darauf, dass die Leiche in den Leichensack gelegt werden konnte. Petersen hatte den Transport zum Flugplatz durch ein Fuhrunternehmen organisiert. Der E-Karren wartete schon vor der Anlage. Die beiden Kommissare durften die Penthouse-Wohnung jetzt ohne Schutzanzüge betreten. Der Verwesungsgeruch war stärker geworden. Petersen beobachtete seinen jungen Kollegen, der jetzt sehr nah an die Leiche herangetreten war. Na, wieviel Leichen hast du schon gesehen, dachte er und schon passierte es. Erhardt musste sich übergeben. Die anwesenden Beamten blieben cool, einige grinsten verstohlen. Petersen hatte sein Pokerface aufgesetzt und reichte seinem Kollegen ohne Kommentar ein Taschentuch. Erhardt, dem die Situation sichtlich peinlich war, wischte sich den Mund ab. Da sich ein weiteres Würgegefühl ankündigte, verließ er die Wohnung und ging an die frische Luft. Gerade rechtzeitig erreichte er noch das Blumenbeet am Eingang. Der Fahrer des E-Karrens beobachtete die Szenerie ziemlich teilnahmslos.
Oben schritt Petersen noch einmal durch die Wohnung und fragte dort einen Techniker: „Habt ihr eigentlich ein Handy gefunden?“
„Nee, leider nicht, außer seinen Papieren, Schlüsseln und mehreren Packungen Kondomen hatte der nichts dabei“, antwortete der Angesprochene mit einem hintergründigen Lächeln.
Petersen verabschiedete sich von den Kollegen aus Oldenburg und fuhr mit dem Fahrstuhl wieder nach unten, wo er einen völlig aufgelösten Kollegen antraf. Kreidebleich stützte dieser sich an der Hauswand ab.
„Mir ist das fürchterlich peinlich, Kollege Petersen“, stammelte er.
Etwas großväterlich klopfte Petersen ihm auf die Schulter. „Das kann schon mal passieren. Nur als kleiner Tipp, vielleicht musst du ja auch mal bei einer Obduktion dabei sein. Die Profis schmieren sich immer irgendetwas in die Nase, Menthol oder Minze. Das hilft gegen diesen Geruch. Ich weiß, wovon ich spreche. So jetzt gehen wir zur Wache, trinken einen starken Kaffee und machen uns einen Plan.“
Petersen wählte mit seinem Kollegen einen kleinen Umweg über die Promenade. Die frische Seeluft würde beiden gut tun. Aus der Ferne hörten sie das Motorengeräusch der Hubschrauber. Der erste hob ab und nahm Kurs auf Oldenburg. Wahrscheinlich war die Leiche im ersten Hubschrauber und würde nun in die Oldenburger Außenstelle des Instituts für Rechtmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover verbracht werden. Die Zedeliusstraße bot einen traurigen Anblick. Viele Lokale waren geschlossen. Nur im „Café Treibsand“ brannte Licht, auch die Inselbuchhandlung hatte geöffnet, aber auf der Straße war niemand zu sehen. Petersen zeigte kurz in die Elisabeth-Anna-Straße, wo sich die Pension befand, in der Kollege Erhardt einquartiert war.
Im Revier begrüßte sie Heike Wohlers mit frischem Kaffee, was Petersen eine Bemerkung abnötigte: „Nicht, dass hier ein falscher Eindruck entsteht, Kollege Erhardt, die weibliche Kollegin ist nicht zum Kaffeekochen verpflichtet.“
Erhardt winkte ab. Auf Gender-Diskussionen hatte er jetzt überhaupt keine Lust. Auch Heike Wohlers fand die Bemerkung Petersens unpassend. Um die etwas peinliche Situation zu entkrampfen, berichtete sie von einem Anruf der Seenotzentrale. „Die Europäische Weltraumorganisation ESA hat bestätigt, dass ein kleiner Asteroid im Raum Bremen/Oldenburg in die Erdatmosphäre eingetreten war und dabei wohl auseinandergeplatzt war. Die ESA vermutet, dass Teile des Asteroiden vor Helgoland in die Nordsee gestürzt seien.“
„Nochmal davongekommen“, knurrte Petersen, der jetzt einen Flipchart-Ständer vor den Schreibtischen aufbaute. Er unterteilte das erste Blatt in zwei Spalten. „Was wir wissen“, stand über der ersten und „was zu tun ist“, stand über der zweiten Spalte. Erhardt war etwas unwohl, als er sah, wie Petersen die Initiative an sich riss. Eigentlich war er ja der Hauptsachbearbeiter.
Petersen schien seine Bedenken zu ahnen. „Ich mache das jetzt, weil ich schon einige Vorkenntnisse über Enzo Poppinga gesammelt habe“, nahm er Erhardt den Wind aus den Segeln. „Enzo Poppinga, zweiunddreißig Jahre alt, war angestellt bei einer Hausverwaltungsfirma in Oldenburg. Er betreute drei Appartementhäuser, ein Haus mit zwölf Wohnungen und zwei mit je neun Wohnungen. Über sein Leben auf der Insel ist wenig bekannt, außer, dass er augenscheinlich ein ‚Womanizer‘ war.“
„Woraus schließt du das?“, warf Erhardt ein.
„Ich zitiere jetzt einige Bezeichnungen über ihn, die auf der Insel kursierten: ‚Enzo the Lover, der Schleicher, Insel-Papagallo und weniger freundlich, Insel-Stecher‘. Wohlgemerkt, die Begriffe sind mir genannt worden.“
Heike Wohlers ärgerte sich über diese erneute Wiedergabe von Inselklatsch. „Das sind doch Gerüchte und könnte ‚Machogelaber‘ sein, keine harten Fakten“, gab sie zu bedenken.
Erhardt nickte zustimmend, was Petersen wiederum ärgerte.
„Dann frage ich mich, was macht ein Hausmeister in einer Penthouse-Wohnung, die ihm nicht gehört und die er auch nicht gemietet hat.“
„Vielleicht wollte er sich einen schönen Abend machen.“ Diese Bemerkung von Heike Wohlers reizte Petersen.
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