Heike staunte über das, was ihr Kollege so draufhatte. Sie war jetzt aber froh, dass sie etwas tun konnte. Ihr Magen rebellierte. Das würde noch fehlen, wenn sie hier direkt vor Petersen auf das Parkett kotzen würde.
Petersen ging auf den Balkon und wählte die Nummer der Polizeidirektion Wilhelmshaven/Friesland. Dem wachhabenden Beamten schilderte er kurz die Lage. „Ich fürchte, wir brauchen hier das große Besteck“, schloss er seine Ausführungen.
Nachdem viele Fotos aus allen Richtungen geschossen waren, verließen sie die Wohnung, nicht ohne die Tür mit einem Polizeisiegel zu versehen. Auf dem Vorplatz vor den Briefkästen stand immer noch ein geschockter Rainer Hinze.
„Schlimme Sache, aber jetzt kommst du erst mal mit auf die Wache und wir trinken zusammen einen Kaffee und du erzählst uns, wie du Enzo gefunden hast“, sprach Petersen ihn an. Hinze nickte und zielstrebig liefen die drei in Richtung Charlottenstraße.
Nachdem sie Hinze entlassen hatten und ein kleines Protokoll angefertigt worden war, schnauften beide Beamte erst einmal durch. Heike Wohlers fühlte sich unsicher und entschloss sich, dieses Gefühl auch zu artikulieren. „Ich war noch niemals bei einer Mordermittlung dabei, was passiert denn jetzt eigentlich?“
„Rechtsmediziner und Spusi werden eingeflogen und es kommen Ermittler auf die Insel, das wird kein Spaß.“
„Wie meinst du das?“
„Nun ja, die werden uns reinreden, als wären wir die Dorftrottel.“
Wohlers empfand Petersens Äußerungen als etwas überheblich. Wollte er vor ihr einen auf dicke Hose machen oder war er wirklich so gut, dass er eine Mordermittlung maßgeblich beeinflussen konnte? So richtig konnte sie ihn noch nicht einschätzen, zumal er sehr unzugänglich war und nichts Persönliches zuließ. Sie konnte sich denken, woran das lag. Wie eine unsichtbare Mauer stand die Sache mit der Stellenbesetzung noch immer zwischen ihnen und keiner wagte es, darüber zu sprechen.
Auch Petersen hatte Schwierigkeiten, seine neue dienstliche Partnerin einzuschätzen. War sie nach wie vor scharf auf seine Stelle? Was wollte eine so relativ junge Frau hier auf der Insel? Karrieretechnisch war das hier eine Sackgasse. Vielleicht eine ruhige Kugel schieben? Für ihr Alter wäre diese Haltung ein wenig früh gewesen. Er würde ihr erst einmal zeigen, wer hier der Chef war, ohne Mobbing, sondern ganz sachlich. Was hatte Siebert gesagt? „Professionell“, genauso würde er die Sache angehen.
Mitten in der Stille, in der beide über ihre gegenseitigen Vorbehalte sinnierten, klingelte das Telefon. Kriminalrat Wilbert aus Wilhelmshaven meldete sich. „Mensch, Petersen, schon wieder eine Leiche. Irgendwie ziehen Sie das Verbrechen auf Ihrer Insel an. Wer ist denn der Tote?“
„Hausmeister einer Appartementanlage“.
„Na, dann wird das ja wohl nicht so ein Riesending wie letztes Mal.“
„Wollen wir hoffen.“
„Also, aus Oldenburg kommen Spusi und Rechtsmedizin. Wegen des Nebels fliegen die Hubschrauber im Moment nicht. Ich muss sehen, wie wir die rüber kriegen. Da sag ich Ihnen noch Bescheid. Ich schicke Ihnen meinen jungen Kommissar Erhardt als unterstützenden Ermittler. Bei Ihnen ist im November ja nichts los. Die Kollegin Wohlers macht die Kleinarbeit und Sie kümmern sich mit Erhardt um die Mordermittlung.“
Petersen war in diesem Moment froh, dass er das Telefon nicht auf laut gestellt hatte. Die Kollegin Wohlers hätte sich bedankt. Nach Ende des Gesprächs gab er Wohlers eine kurze Zusammenfassung, ohne allerdings die Sache mit der Kleinarbeit zu erwähnen. Er wollte nicht noch Öl ins Feuer gießen. Die angespannte Lage reichte ihm auch so.
„Was sind die nächsten Schritte?“, fragte Wohlers zaghaft.
„Wir müssen jetzt erstmal die Lebensumstände von Enzo Poppinga recherchieren. Da kann uns auch jemand von außen nicht helfen. Ich weiß nur, dass sie ihn in der Kneipe ‚the Lover, den Schleicher oder Papagallo‘ genannt haben. Irgendeiner hat auch mal vom ‚italienischen Stecher‘ geredet.“
„Was hat das denn nun zu bedeuten?“, fragte eine leicht pikiert blickende Heike Wohlers.
„Zusammengefasst gesagt, er war ein Frauenheld“, kam es trocken von Petersen.
Ungläubig blickte ihn seine Kollegin an.
„Und was hältst du von der roten Flüssigkeit im Genitalbereich?“
Petersen wiegte seinen Kopf hin und her. Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten. „Vielleicht eine Inszenierung, ich glaube aber, dass wir mehr über das Opfer wissen müssen, um dies zu beurteilen.“
In diesem Moment klingelte wieder das Telefon. Schade, dachte Heike Wohlers, jetzt war es gerade interessant geworden. Gerne hätte sie noch mehr an Petersens Überlegungen teilhaben wollen.
Kriminalrat Wilbert meldete sich. Die Hubschrauber konnten wegen des Nebels nicht fliegen. Die ganze Aktion wurde auf morgen verschoben. Auch Kriminaloberkommissar Erhardt würde erst am nächsten Tag anreisen. Für ihn wurde ein Zimmer in einer Pension in der Elisabeth-Anna-Straße gebucht.
„Ein Tag Verschnaufpause“, kommentierte Petersen den Anruf seines Chefs, „gut, dass der Erhardt nicht hier im Revier wohnt. Etwas Distanz macht es für uns leichter.“
Heike Wohlers verstand nicht genau, was er meinte. Aber sie war sowieso nicht betroffen, denn aus gutem Grunde wohnte sie außerhalb des Reviers. Distanz zu ihrem etwas undurchsichtigen, aber dennoch nicht inkompetenten, Kollegen würde auch ihr gut tun.
Nach Dienstschluss zog Petersen in Windeseile die Uniform aus. Er musste sich beeilen, denn der Mann, den er treffen wollte, hatte nicht ewig Zeit. Schnell schlüpfte er in die verwaschene Jeans und zog seine alte, speckige Lederjacke über. Zielstrebig eilte er in die Friedrich-August-Straße. Die grünen Schirme waren zugeklappt und die Kneipenbeleuchtung noch nicht eingeschaltet. Als er eintrat, schlug ihm der kalte Zigarettengestank des gestrigen Abends entgegen.
„Ich habe dich schon erwartet“, kam es links von der Empore. Am äußeren Ecktisch saß der Wirt, über ihm hing eine lange Aalreuse, links neben ihm eine Schaufensterpuppe in schwarzen Dessous. In der rechten Hand hielt er eine qualmende Zigarette. Sein starrer Blick ging raus in Richtung Brunnen auf den Platz vor der Kneipe.
„Ich sage gleich schon nein, bevor du anfängst“, murrte er, ohne seine Körperhaltung zu verändern. Nach wie vor wandte er Petersen nur seinen Rücken zu. Langsam ging dieser die Treppe zur Empore rauf und setzte sich zu ihm. „Du weißt doch noch gar nicht, was ich will“, kam es trotzig von Petersen.
„Hältst du mich für blöd? Der Tod von ‚Enzo the Lover‘ ist schon längst Tagesgespräch auf der Insel“, tönte es hinter dem Rücken hervor.
„Ist ja gut Alter, ich will ja nur wissen, mit wem der hier auf der Insel so verkehrt hat?“
„Und ich hatte schon nein gesagt. Ich muss dir doch wohl nicht wieder einen Vortrag über das Beichtgeheimnis eines Wirtes halten. Wenn ich all das weitererzählen würde, was sich hier so abends ereignet, dann kann ich den Laden zumachen. Die Verschwiegenheit eines Wirtes ist seine Geschäftsgrundlage.“
„Oha, jetzt geht’s ins Grundsätzliche. Ich habe einen Mord aufzuklären und ich kann dich natürlich auch ganz offiziell als Zeugen vorladen lassen.“
Der Magister, so nannte sich der Wirt nach Klaus Störtebekers Gesellen Magister Wygbold, lachte kurz auf und nahm einen langen Zug von seiner Zigarette. Immer noch hatte er sich nicht zu Petersen umgedreht. „Soll ich dir die Geschichte des Studenten Hase erzählen?“
Petersen nickte. Er ahnte zwar, was kommen würde, ließ ihn aber gewähren.
„Also, der Student Hase sollte in einem Prozess gegen einen Freund aussagen. Er teilte dem Vorsitzenden Richter mit: ‚Mein Name ist Hase und ich weiß von nichts‘. “ Sein Gegenüber musste grinsen.
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