Hugo Friedländer
Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band
Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Vergangenheit
Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band
Hugo Friedländer
Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Vergangenheit
Impressum
Texte: © Copyright by Hugo Friedländer
Umschlag: © Copyright by Walter Brendel
Verlag: Das historische Buch, 2022
Mail: walterbrendel@mail.de
Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Berlin
Inhalt
Ein Raubmord im Eisenbahn-Kupee
Prozeß wider das Grafen-Ehepaar Kwilecki wegen Kindesunterschiebung
Der Hannoversche Spieler- und Wucherprozeß
Die Leiche im Koffer
Der Raubmörder Hennig
Der Knabenmord in Xanten
Die Geheimnisse des Alexianer-Klosters Mariaberg
Der falsche Hauptmann von Köpenick, Wilhelm Voigt
Der Judenflinten-Prozeß
Ein entmenschtes Weib. Die Engelmacherin Wiese
Die Ermordung zweier »Reisebegleiterinnen« im Walde. Der Prozeß Erbe-Buntrock
Die Ermordung des Rittmeisters v. Krosigk in der Reitbahn der Dragonerkaserne zu Gumbinnen
Das spiritistische Medium Anna Rothe
Die Ermordung der Medizinalrätin Molitor auf der Promenade in Baden-Baden
Die Ermordung zweier Frauen in der Königgrätzer Straße in Berlin
Eine Bluttat in Essen vor dem Marinekriegsgericht
Ein blutiges Drama
Der Mord im Essener Stadtwalde
Die Ermordung des Oberstleutnants Roos
Das Dynamit-Attentat gegen den Polizeioberst Krause
Der Prozeß gegen den Bankier August Sternberg wegen Sittlichkeitsverbrechen
Die Ermordung des Grafen Komarowski vor dem Schwurgericht zu Venedig
Ein Raubmord im Eisenbahn-Kupee
Unergründlich sind die inneren Seelenvorgänge eines Menschen. Der Psychologe steht, trotz aller Fortschritte der Wissenschaft, vor so manchem Verbrechen wie vor einem ewigen Rätsel. Wenn sich jemand in ein leeres Kupee zweiter Klasse setzt, und zwar in einen sogenannten Lokalzug, der fast alle zehn Minuten hält, so ist doch wohl die Befürchtung vollständig grundlos, daß ein Mitreisender in dies Kupee steigen könnte in der Absicht, bei passender Gelegenheit einen Raubmord zu begehen. Auf diesen ungeheuerlichen Gedanken kann man um so weniger kommen, wenn der Mitreisende, der kurz vor Abgang des Zuges das Kupee betritt, ein junger, elegant gekleideter, etwa siebzehnjähriger Mensch mit wahrem Engelsgesicht ist. Der Altonaer Zahnarzt Claußen fuhr alle Sonnabend nachmittag nach seiner in Blankenese belegenen Villa, um sich dort mit Frau und Kindern der sonntäglichen Ruhe zu erfreuen. So geschah es auch am Sonnabend, den 10. November 1906. Freudigen Gemüts begab sich Claußen nach dem Altonaer Hauptbahnhof, um mit dem 3 Uhr 33 nachmittags abgehenden Zuge zu Frau und Kindern zu fahren. Der Zug war wenig besetzt. Das Kupee zweiter Klasse, in dem er Platz genommen hatte, war leer. Claußen freute sich zweifellos, seine Frau und Kinder nach sechstägiger Abwesenheit wieder in seine Arme schließen zu können. Nicht minder groß dürfte die Freude von Frau und Kindern gewesen sein, die mit Ungeduld den Gatten und Vater erwarteten. Daß Claußen in diesem Kupee das Opfer eines Raubmörders werden würde, konnte er nicht ahnen. Es war ja außer ihm niemand im Kupee. Da, kurz Abgang des Zuges stieg ein allerliebstes, engelschönes junges Kerlchen, aufs eleganteste gekleidet, ins Kupee und setzte sich mit einem freundlichen Gruß dem Zahnarzt gegenüber. Die feinen Umgangsformen des jungen Mannes ließen darauf schließen, daß er den besseren Ständen angehörte. Der Zahnarzt erwiderte kurz den Gruß seines Gegenübers, ließ sich aber in seiner Zeitungslektüre nicht stören. Einen Argwohn konnte er gegen das nette Bürschchen, dessen schöne blaue Augen so unschuldsvoll in die Welt sahen, nicht hegen. Und dennoch hatte sich dieser auffallend schöne Mensch den Zahnarzt als Opfer ausersehen. Er verbarg ein Beil in seiner Tasche, das seine Wirtsleute zum Holzspalten zu benutzen pflegten. Der Zahnarzt war ihm vollständig fremd. Der junge Mann war keineswegs ein professionierter Verbrecher, sondern bis zu diesem Augenblick ein hochanständiger Mensch. Aber er hatte Hunger und, wie er behauptete, seit mehreren Tagen nichts gegessen. Da kam er auf den furchtbaren Gedanken, nach dem Bahnhof zu gehen, sich ein Billett zweiter Klasse bis Klein-Flottbeck zu lösen und sich alsdann ein Kupee auszusuchen, in dem ein einzelner, wohlhabender Mann saß. Zahnarzt Claußen erschien ihm als Opfer geeignet. Einige Schläge mit dem Beil, das er in seiner Tasche barg, mußten genügen, um den noblen Herrn zu töten. Die Gelegenheit war günstig, aber gleichgültig war dem jungen Mann sein schreckliches Vorhaben doch nicht. Er griff die Hosentasche, um das Beil hervorzuholen. Aber da traten die Bilder seiner braven Eltern und seines einzigen Bruders vor seine Augen. Er zuckte, er schwankte. Aber auf der anderen Seite plagte ihn der Hunger. Nur einige wohlgezielte Beilhiebe und du bist in der Lage, dein Opfer zu berauben, so schwirrte es in dem Gehirn des jugendlichen Unholds. Dieser dämonische Gedanke behielt die Oberhand. Da hielt der Zug in Groß-Flottbeck. Niemand stieg ein, der Zug dampfte sofort wieder ab. Die nächste Station, die der Zug in wenigen Minuten erreicht, ist Klein-Flottbeck. Dort muß der junge Mann den Zug verlassen. Sein Geld, es war das letzte, reichte nur für ein Billett vom Altonaer Hauptbahnhof nach Klein-Flottbeck. Jetzt oder nie. Zahnarzt Claußen saß noch immer ruhig, seine Zeitung lesend in einer behaglichen Polsterecke. Der junge Unhold zog unbemerkt das Beil aus seiner Hosentasche und – versetzte plötzlich damit dem Zahnarzt fünf Schläge auf den Kopf. Die Schläge waren von dem sehr stark gebauten Menschen ungemein kräftig geführt. Der Schädel war dem Zahnarzt vollständig zertrümmert, das Gehirn in weitem Bogen herumgespritzt. Bereits der erste Schlag war mit einer solchen Wucht geführt, daß er tödlich wirkte. Ohne einen Lauf von sich zu geben, fiel der Zahnarzt vom Sitz. Der Mörder schlug aber noch weiter. Als er sich überzeugt hatte, daß sein Opfer tot war, kniete er auf die Leiche und raubte dieser Uhr, Kette und Portemonnaie. In diesem Augenblick pfiff der Zug, er war bald darauf in der Station Klein-Flottbeck eingelaufen. Der vollständig mit Blut besudelte Mörder stieg aus. An der Sperre fiel er wohl dem Billettschaffner auf. »Sie sind ja von oben bis unten mit Blut bespritzt,« rief ihm der Schaffner zu. »Ich habe Nasenbluten gehabt,« gab der Mörder zur Antwort. Der Schaffner konnte unmöglich in diesem Menschen einen Raubmörder vermuten. Der Mörder flüchtete in eine Bedürfnisanstalt. Dort suchte er, so gut es ging, seine Kleidung zu säubern. Er öffnete das geraubte Portemonnaie. Viele Goldstücke blinkten ihm entgegen. Damit kannst du schon eine Zeitlang leben, dachte er. Er betrat einen Bäckerladen und kaufte sich ein Schrotbrot. Alsdann stieg er in einen Obstkeller, um sich Äpfel zu kaufen. Er war Vegetarier und Antialkoholiker. Er lebte ausschließlich von trockenem Schrotbrot und Wasser, und wenn er bei Kasse war, gönnte er sich den Genuß eines Apfels. Alkoholische Getränke mied er grundsätzlich. Er hatte noch niemals ein Wirtshaus betreten. Auch der intime Umgang mit Weibern war ihm bis dahin vollständig fremd. Sehr bald langte er zu Fuß in seiner Wohnung in Altona an. Das Beil, das seine Wirtsleute noch nicht vermißt hatten, legte er wieder an dieselbe Stelle, von der er es fortgenommen hatte. Nachdem er sein frugales Abendbrot eingenommen, – die Nacht war inzwischen hereingebrochen – legte er sich zu Bett. Von Schlaf war aber keine Rede. Sein unglückliches Opfer umtaumelte seine Sinne. Er begann heftig zu weinen. Der Gedanke, daß er zum Raubmörder geworden, daß er ewige Schmach und Schande über seine Familie gebracht und womöglich entdeckt werde, ließ ihn kein Auge schließen.
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